Sabrina Imbler: So weit das Licht reicht

Der Roman „Soweit das Licht reicht. Die Kreaturen der Tiefsee und was sie mir über das Leben erzählen“ von Sabrina Imbler führt in die Tiefen unserer Ozeane, soweit das Licht eben reicht und weiter. Dort unten leben Wesen ohne Licht, ohne Sauerstoff, blühen auf und vergehen, ohne dass wir sie sehen. Sie haben sich so sehr an diese Welt angepasst, dass sie an lebensfeindlichen Orten geboren werden, sich vermehren und sterben können, sie haben Mechanismen und Körper entwickelt, die sich manch eine:r von uns des Öfteren wünschen würde.

Wie viele Menschen leben in absolutem Unverständnis ihrer Außenwelt bezüglich ihrer Gefühle füreinander, ihrer Interessen und Ausdrucksweisen oder ihrer Sexualität. Ich weiß nicht genau, warum die intimsten Wesenszüge der Menschen derart ans Tageslicht gezogen werden müssen, sobald die Personen nicht dem plakativen „Normal“ entsprechen. Wieso existiert eine solche Angst, Abneigung, Distanz gegenüber Queerness, gegenüber so vielschillernden Arten, das Leben zu bewältigen?

Fragen wie diesen geht Sabrina Imbler in ihrem Buch nach, spürt tief in die See der menschlichen Unsicherheiten und nimmt uns mit in ihre queere Welt, die immer noch so sehr eine Bubble ist. In beinahe magischen Vergleichen zieht sie eine Verbindung zwischen ihren Erlebnissen und Gefühlen und Wesen des Ozeans. Habt ihr euch zum Beispiel jemals Gedanken darüber gemacht, dass bestimmte Tiere nur in Angstzuständen definiert werden? Indem sie ihre Farbe ändern oder ähnliches.

Nur dieser Zustand verleiht ihnen Bekanntheit, nur dieser Zustand scheint erwähnenswert zu sein: Ihr Verhalten, während sie um ihr Überleben kämpfen. Ist das nicht toxisch? Und lässt es sich nicht genauso auf menschliches Verhalten übertragen?Imbler knüpft die Verbindung und weist auf die Queere Gemeinschaft hin, die sich genauso in einem dauerhaften Zustand der Angst befindet, in der Gewissheit, von so vielen Individuen lautstark gehasst zu werden.

Rührend macht Imbler deutlich, dass auch Tiere sich in Aufopferung und Mutterschaft verstehen, dass Oktopusse während der Brutzeit ihrer Babys weder essen noch sich bewegen und anschließend als Schatten ihrer Selbst entkräftet sterben, dass Wale ihre verstorbenen Kinder bis zum Verwesen vor sich her tragen – sie erzählt von der Fürsorge ihrer eigenen Mutter und von der Schwierigkeit, über sprachlich und kulturell unterschiedliche Generationen hinweg eine Familie zu sein.

Sie erzählt von dem Gefühl, anders zu sein, in jeder Form. Zu Amerikanisch, um Chinesin zu sein, zu Chinesisch, um Amerikanerin zu sein, queer noch dazu, ein eigener Körper, der sich an manchen Tagen falsch und an manchen Tagen genau richtig anfühlt. Einzelne Lebewesen gibt es im Meer, die aus der Zusammenkunft verschiedener Spezien entstanden sind und – ebenso wie in Imblers Beschreibung – weder das eine noch das andere sind. Doch nichtsdestotrotz wunderschön.

Dieser Roman zeigt, wie eng verzahnt der Mensch mit den anderen Lebewesen dieser Erde ist, auch wenn er es nicht gern zugibt. Und wie viel ihm noch fehlt, um mit der Welt in Einklang zu leben, wie die Tiere und Pflanzen und Einzeller es bereits seit Urzeiten tun. Wie schön der Gedanke, dass ein verstorbener Wal noch über Jahrhunderte Nahrung und Zuflucht für andere Lebewesen darstellt, wie wunderbar, dass „weißer Schnee“, also Abfall, der sich langsam in der Tiefsee zersetzt, bis nach unten dringt, wohin das Licht fast nicht mehr reicht, und die Bewohner weit unter der Meeresoberfläche ernährt und mit von der Sonne getränkten Vitaminen versorgt. Ein ewiges Miteinander, das Imbler sich auch für die Menschen wünscht, für ihre Queere Community und all diejenigen, von denen sie sich unverstanden fühlt. Vielleicht auch für sich selbst. Ein Hinterlassen, das nur den wenigsten von uns gestattet ist.

So werden Identitätsfragen im Sinne von Geschlechteridentität, sexuellen Vorlieben und vor dem Hintergrund von Migration diskutiert und zart mit den Strömungen unserer Ozeane verflochten. Mich persönlich hat diese Verbindung sehr angezogen, ich habe das Buch in nullkommanichts verschlungen. Imblers Sprache, so einfach wie zauberhaft, schenkt ihren Lesenden kleine gläserne Kugeln voller blassschimmerndem Wissen, so zart, fast ein Geschenk. Wie sehr ich die Einblicke unter die Wasseroberflächen unserer Welt genossen habe und wie fantastisch ich die Art und Weise der Verknüpfung ihrer persönlichen Themen und dem Meeresleben finde! Das ist eine schreibende Person, von der ich wieder hören möchte, denn sie hat die Metapher als Stilmittel perfektioniert und kann sie auf eine Weise erzählen, dass es anmutet wie ein Märchen.

Sabrina Imbler: So weit das Licht reicht. Die Kreaturen der Tiefsee und was sie mir über das Leben erzählen.
Aus dem Englischen übersetzt von Anja Kauß
Mit Illustrationen von Simon Ban
C. H. Beck, September 2023
283 Seiten, gebundene Ausgabe, 25,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Luisa Aufderheide.

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Ein Kommentar zu “Sabrina Imbler: So weit das Licht reicht

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