Die Autorin Ilona Jerger hat Germanistik und Politologie studiert. Im Schreiblust-Leselust-Portal wurde auch ihr vorangegangener, 2017 erschienener Roman Und Marx stand still in Darwins Garten rezensiert.
Ilona Jergers aktuelles Buch „Lorenz“ handelt vom Tierpsychologen und Verhaltensforscher Konrad Lorenz. Die Autorin selbst schlüpft als Ich-Erzählerin in die Rolle einer Ornithologin, die ergänzend am biografischen Inhalt mitwirkt. Wie Ilona Jerger selbst beschreibt, lebt ihr Roman in einer Zwischenwelt, in der sie die biografischen und historischen Fakten gemäß ihrer künstlerischen Freiheit literarisch ergänzt.
So lernt man den Verhaltensforscher Lorenz, der seine Tierbeobachtungen bereits in der Kindheit und Jugend begonnen hat, von Seite zu Seite besser kennen:
Entgegen dem Wunsch seines Vaters, eines bekannten Orthopäden, stellte Lorenz sich mit Anfang dreißig gegen das ihm aufgezwungene Medizinerleben und entschied sich für die Tiere.
Er schwamm mit Gänsen, tauchte durch Fischschwärme, verfrachtete Buntbarsche und Gänse von Wien nach Königsberg, hat Vögel vom Kriegsgefangenenlager in Armenien bis nach Hause getragen und Enten von einem Forschungsteich zum nächsten gefahren.
Am eindrucksvollsten und bekanntesten sind seine Aufzeichnungen über die Episoden mit der Graugans Martina. Das Graugansküken, das den Forscher, als erstes erblickte, nachdem es aus dem Ei geschlüpft war, betrachtete Lorenz fortan als Mutter. Mit Martina pflegte Lorenz fortan das Gänseleben. Die Gans schlief neben seinem Bett in der geheizten Wiege. Lorenz lernte „Graugänsisch“, kroch mit der Gans durchs Gras und schwamm mit ihr.
Durch seine ideologischen Vorleistungen folgte er 1940 dem Ruf an die Universität von Königsberg. Dort übte er als Nachfolger des Lehrstuhls von Immanuel Kant seine Professorentätigkeit für vergleichende Psychologie aus.
Der Zweite Weltkrieg beendete sein Akademikerleben ziemlich schnell.
Aber selbst als Gefangener im Zugwaggon machte Konrad Lorenz Tierbeobachtungen an Läusen.
Um am Leben zu bleiben und nicht unterversorgt zu sein, aß er in russischer Gefangenschaft monatelang so viele Insekten, Heuschrecken und Ameisen, wie er nur konnte. Er begann ein Manuskript über vergleichende Verhaltensforschung zu schreiben. Als Papier dienten ihm Zementsäcke.
1948 kam der Russlandheimkehrer Lorenz wieder nach Hause. In einer Hand hielt er einen Vogelkäfig mit einem Star, in der anderen einen Vogelkäfig mit zwei Ohrenlerchen.
Später, 1968, war er während der Vorlesungen den Angriffen der Studenten ausgesetzt. Lorenz leugnete vehement seine nationalsozialistische Vergangenheit, obwohl er Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP gewesen war.
Den Höhepunkt seiner Karriere erlebte Konrad Lorenz im Jahr 1973. Zusammen mit Karl von Frisch und Nikolaas Tinbergen wurde ihm der Nobelpreis für Medizin verliehen.
Durch geschickte Einschübe zeitgleich stattfindender Geschehnisse und verschiedenen damit verflochtenen Persönlichkeiten baut Ilona Jerger immer wieder geschichtliches Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts in den Text ein. So verbindet und erinnert sie unter anderem an den im Exil lebenden Bertolt Brecht, dessen Bücher verbrannt werden, an den Philosophen Martin Heidegger, der Paul Celan und Hölderlin rezitiert, an Leni Riefenstahl, Wernher von Braun, Hannah Arendt, Bernhard Grzimek, Jacques Cousteau, Sigmund Freud oder an Willy Brandts Ostpolitik.
Ilona Jerger zeigt vielschichtig, mit dem interessant geschilderten Forscherleben von Konrad Lorenz zugleich ein Zeitzeugnis des 20. Jahrhunderts auf.
Ilona Jerger: Lorenz.
Piper, November 2023.
336 Seiten, gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.