Katerina Gordeeva: Nimm meinen Schmerz

Erschütternde Schicksale machen den Schmerz fast greifbar – schwer erträgliches, aber ungemein wichtiges Buch

 „Aber eigentlich handelt (meine Geschichte) nicht von mir. Sie handelt von den Menschen. Manche verwandelt der Krieg schnell zu Bestien. Ich habe solche gesehen: Man gibt ihnen eine Waffe, und sie verlieren sofort alles Menschliche. Verlieren ihr Gewissen und Mitgefühl. Ich habe gesehen, wie schnell das geht.“ (S. 71).

Solche Geschichten, von Menschen, Frauen, Männern, Kindern, im Krieg erzählt die Journalistin Katerina Gordeeva. Oder vielmehr sie lässt diese Menschen ihre Geschichten erzählen, sie hört zu, stellt manchmal Fragen, manchmal fehlen ihr aber auch die Worte. Und manchmal möchten die Ukrainerinnen gerade mit ihr nicht sprechen, denn Katerina Gordeeva ist Russin.

Sie ist eine sehr einflussreiche, unabhängige Journalistin, die mit Preisen ausgezeichnet wurde und die 2014 ihr Land verließ aus Protest gegen die Annexion der Krim durch Russland. Heute lebt sie in Lettland. Aber Gordeeva hat noch Familie in Russland, Freunde und Bekannte. Und viele ihrer Gesprächspartner, deren Geschichten dieses Buch versammelt, hatten zu Beginn Probleme damit, einer Russin zu vertrauen.

Es sind vor allem Frauen, die in diesem Buch zu Wort kommen. Frauen, die Furchtbares erlitten haben, Frauen, die geflohen sind, nach Polen, nach Deutschland, nach Italien. Und Frauen, die geblieben sind, weil sie eine alte Verwandte pflegen müssen, weil sie ihre Tiere nicht zurücklassen wollten, weil sie nah bei ihren Männern bleiben wollen.

Es sind Frauen, die schwer verletzt wurden, deren Männer umkamen, deren Kinder umkamen. Es sind Frauen, die alles verloren haben.

Die Geschichten sind schwer zu ertragen. Da ist Irma, die ihr Augenlicht und ihre Beine verlor bei einem Angriff, als sie ihre Katze retten wollte. Sie sitzt im Rollstuhl und muss ihr Leben ganz neu lernen. Da ist Inga, für die Bügeln wie eine Therapie ist, nur wenn sie bügelt, kann sie ihr Leben ertragen, nachdem sie Mann und Sohn verlor.

Da ist Yulia, in deren Kopf ein Bombensplitter steckt. Sie lässt sich nicht operieren, weil sie ihre Tochter nicht allein lassen will. Und da ist Taissija, eine alte Frau, verpflanzt gegen ihren Willen aus der Ukraine in ein Lager in Rostow am Don. Dort in dem Lager, das sie nicht verlassen dürfen, wo es den angeblich Geflüchteten angeblich gut gehen soll, wo sie nicht erfahren, was mit ihnen geschehen soll, verkümmert Taissija, wartet auf den Tag, an dem sie zurückkehren darf, der Tag, der nie kommt.

Und da sind die Männer, die erzählen, auch sie und auch Russen lässt Katerina Gordeeva zu Wort kommen. Und auch wenn es beim Lesen schwerfällt, Mitgefühl für die Angreifenden zu empfinden, so ergreifen auch deren Schicksale, sind doch die wenigsten von ihnen freiwillig in diesen Krieg, der nicht so genannt werden darf, gezogen.

Es wird viel geweint während diese Menschen ihre Geschichten erzählen. Auch mir kamen an vielen Stellen dieses Buches die Tränen, denn die Art, wie die Autorin diese Geschichten aufschreibt, mit welchen Worten es ihr gelingt, die Schicksale greif- und fühlbar zu machen, ist aufwühlend, erschütternd und dabei genau richtig.

Dieses Buch muss man lesen.

Einziges Manko: Das Glossar, welches die ukrainischen Ausdrücke und Abkürzungen erläutert hätte besser vorne im Buch gestanden statt ganz hinten, wo man es erst am Ende und eher durch Zufall findet.

Katerina Gordeeva – Nimm meinen Schmerz
aus dem Russischen von Jennie Seitz
Droemer, Oktober 2023
Gebundene Ausgabe, 349 Seiten, 24,00 €

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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