Die Autorin Angelika Mechtel lässt uns durch eine Glasscheibe in das Innere einer gutbürgerlichen Familie blicken. Von 1971 bis 1972 geht die Zeitreise zu einer „ehrenwerten Gesellschaft“. Den Rahmen bildet die opulente Feier zum 60. Geburtstag von Amelie Born, der Ehefrau eines bekannten Professors.
„Jedes Mitglied ausgestattet mit einer weißen Weste, die untadelig bleibt, solange barmherzig abgedeckte Ungeheuerlichkeiten nicht an die Öffentlichkeit gelangen.“ (S. 10)
Abzudecken gibt es reichlich: Herzlosigkeit, Grausamkeit gegenüber ärmeren Mitmenschen, routinierter Mord, Drogenschmuggel, Lügen, Betrügen und das Vertuschen vergangener Schandtaten.
Im Zentrum stehen die Brüder Michael und Friedrich, die bereits in ihrer Kindheit Feinde sind. Der Jüngere wählt den anständigen Weg, während der Ältere, Mamas goldener Liebling, systematisch andere Menschen ausnimmt. Sie sind Stellvertreter für zwei politische Lager, dem sozialistischen oder dem rechten, kirchlichen.
Ihre tiefe Abneigung muss am Geburtstag ihrer Mutter ruhen. Wenn sie im Frack zum festlichen Empfang im Nobelhotel erscheinen, sollen sie die heile Familie vor den Gästen vortäuschen. In Hintergrund versucht der Portier zwei Polizisten bei Laune zu halten, die Michael und Friedrich verhaften wollen.
Die politisch engagierte Autorin Angelika Mechtel wurde 1943 in Dresden geboren und starb 2000 in Köln. Ihre Bücher für Erwachsene, Kinder und Jugendliche wurden mit Preisen bedacht. Darüber hinaus schrieb sie Hörspiele und Drehbücher. Als sie 1973 Das gläserne Paradies veröffentlichte, fanden in der Gesellschaft bereits gravierende Umbrüche statt. Es gab viele, die am Wirtschaftswunder sehr gut verdient hatten und den alten Zeiten nachtrauerten. Zur gleichen Zeit prangerten die StudentInnen den Muff unter den Talaren an. Sie kämpften für Emanzipation, inklusive dem Recht auf Abtreibung, und Angelika Mechtel war mittendrin. Die Situation der Arbeiter war ihr ebenso bekannt wie die Verlogenheit der Vermögenden, die Armut und Arbeitslosigkeit als privates Versagen deklarierten.
Man muss den Roman, der so vergnüglich, kurzweilig und stellenweise erschreckend zu lesen ist, als ein Kunstwerk für Satire betrachten. Die Autorin teilt gnadenlos aus, seziert und beschreibt gesellschaftliche Missstände. Sie benutzt die typischen Stilmittel der Über- und Untertreibung, bagatellisiert oder zieht kritische Umstände ins Lächerliche oder Absurde.
Hier eine Kostprobe zu Frankfurt, der Stadt der Banken: „Tote Sonntagsstadt. … Betongräber, Glas und Stahl. … Agonie einer Gebrauchsstadt, wenn die Börse geschlossen ist. Als habe es dem Kapital für einige Stunden die Sprache verschlagen. … Auswurf einer pestkranken Generation, wenn die Nutten schlafen und das Elend beischläft: Wand an Wand im Mausoleum der Wirtschaftskapitäne. … Und immer die Angst im Nacken, den Fressnapf an andere abgeben zu müssen.“ (S. 116)
Der Geiz ist hier genauso etabliert wie systematische Verelendung. „Wenn die Nutten schlafen und das Elend beischläft“ ist eine von zahlreichen Formulierungen, die gekonnt das Messer ins Herz rammen.
Die dunkle Seite des Kapitalismus zeigt die Autorin an den Stellen, wenn es um die unverschuldete Not geht, wenn der Malocher zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben verdient. Der Schwache nimmt sich in einem solchen Umfeld das Leben. Im Speziellen sind es Bruder und Schwester. Dem Bruder gelingt es, der Schwester nicht. Sie sind in einem sozialen Brennpunkt gefangen, der keinen gesellschaftlichen Aufstieg erlaubt.
Angelika Mechtels satirischer Roman macht – abgesehen vom hohen Unterhaltungswert – ratlos. Denn aus der heutigen Perspektive liest sich die Geschichte des gläsernen Paradieses erschreckend aktuell.
Angelika Mechtel: Das gläserne Paradies: rororo Entdeckungen, Band 7
Herausgegeben von Magda Birkmann und Nicole Seifert
Rowohlt Taschenbuch, Oktober 2024
448 Seiten, Taschenbuch, 15,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.