Die schottische Schriftstellerin Alison Louise Kennedy (Jahrgang 1965) lebt aktuell in der Nähe der britischen Hauptstadt und hat mit „Süßer Ernst“ einen Roman über zwei Menschen in London geschrieben. Das Buch ist am 5. November 2018 in einer Übersetzung von Ingo Herzke und Susanne Höbel im Carl Hanser Verlag erschienen.
In „Süßer Ernst“ beschreibt A. L. Kennedy das Leben von Jon und Meg während eines Tages im Frühjahr des Jahres 2015. Jon ist Ende fünfzig und Regierungsbeamter, geschieden mit einer erwachsenen Tochter. Meg ist Mitte vierzig und eine trockene Alkoholikerin, die einmal Buchhalterin war und jetzt in einem Tierheim arbeitet. Die Geschichte beginnt um 6:42 Uhr in der Früh damit, dass Jon in der Wohnung seiner Ex-Frau die Blumen gießt und dabei einen kleinen Vogel aus einem Netz befreit, in dem er sich verfangen hatte. Dabei kackt ihm der Vogel aus Angst auf die Hose, und Jon kotzt zum ersten, jedoch nicht zum letzten Mal an diesem Tag. Meg spaziert auf den Telegraph Hill, um den Sonnenaufgang zu sehen. Sie feiert ihren ersten Geburtstag. Seit einem Jahr hat sie keinen Alkohol getrunken.
Kennedy erzählt im Folgenden abwechselnd aus Jons und Megs Perspektive mit vielen inneren Monologen. Eingeleitet werden die Kapitel, die jeweils eine Uhrzeit als Überschrift tragen, durch kurze Miniaturen, in denen Stadtszenen beschrieben werden. Irgendwann am Ende der vierundzwanzig Stunden und nach mehreren Verzögerungen werden Jon und Meg sich treffen.
Jon hasst seine Arbeit und ist voller Selbstzweifel. Er beschreibt Kollegen, Vorgesetzte und die Politik im Vereinigten Königreich zynisch. Und wird am Schluss zum Whistleblower gegenüber einem Journalisten, den er eigentlich in Schach halten sollte.
Als Ausgleich schreibt er Liebesbriefe an Frauen, die ihn dafür bezahlen. Antworten werden nicht erwartet. Meg ist eine von ihnen. Und sie antwortet Jon. Mehr noch, sie versucht, ihn ausfindig zu machen. Was ihr auch gelingt.
Beide trauen sich und dem anderen nicht. Sie sind verletzte, scheue Menschen, denen die Liebe nicht geheuer ist.
Am Ende des Buches und um 6:42 Uhr des nächsten Tages gelingt dem „zerknitterten Paar“ eine zarte Annäherung beim Sonnenaufgang auf dem Hügel.
Was hat es lange gedauert bis ich als Lesende in dieses Buch hinein gefunden habe und habe es doch nie wirklich. Kennedys detailverliebte Innenschau im Zwei-Personen-Stück ist anstrengend, sehr anstrengend. Vor allem die vielen Passagen mit den inneren Monologen (zur besseren Lesbarkeit kursiv gedruckt) der beiden Protagonisten fordern heraus. Und sind nach meinem Geschmack zu ausführlich geraten. Nun scheint A. L. Kennedy eine Vorliebe für skurrile Charaktere zu haben, wie schon die alkoholkranke Hannah Luckraft in „Paradies“ (2005) oder die verhuschte Helen Brindle in „Gleißendes Glück“ (2000). Aber die beiden um sich selber kreisenden Versehrten in „Süßer Ernst“ wiederholen sich geradezu penetrant in ihren Unsicherheiten, Selbstzweifeln, in ihrer Wut, ihrem Selbstmitleid, ihrer Gesellschaftskritik und ihrem Versagen. A. L. Kennedy mutet dem Lesenden mit der Geschichte ihrer gestörten, zutiefst einsamen Figuren und ihren Endlosschleifen-Gedanken viel zu. Beinahe zu viel, so war ich oft kurz davor, das Buch zur Seite zu legen. Ich hatte keine Ahnung, wie lang vierundzwanzig Stunden sein können.
„Süßer Ernst“ ist ein Liebesroman und ein Porträt Londons. Erfahre ich als Lesende über Jon und Meg, wie es sich in London lebt und (nicht) liebt in der Zeit kurz vor der Brexit-Entscheidung. Aber noch viel mehr über die Miniaturen, die den Kapiteln vorgeschaltet sind. Spät in der Geschichte stellt sich dabei heraus, dass diese offenbar aus Megs Feder stammen, um die positiven Momente, die Lichtblicke des Tages festzuhalten. Und diese sind es gemeinsam mit dem nervtötend lange heraus gezögerten Happy End für Jon und Meg, die mich als Lesende nicht endgültig zum miesepeterigen Misanthropen werden lassen.
A. L. Kennedy: Süßer Ernst.
Hanser, November 2018.
400 Seiten, Gebundene Ausgabe, 28,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.