Im Frühling 1952 im Westen Berlins: Der Schulabschluss von Sonja und ihren Klassenkameradinnen steht kurz bevor. Die Mädchen und jungen Frauen schmieden Pläne für die Zeit nach der Mittleren Reife. Sonja möchte auf die kaufmännische Schule gehen, um dort Maschinenschreiben, Stenografie, Rechnungswesen und Buchhaltung zu lernen, damit sie die Eltern im Büro ihres Fahrdienstes unterstützen kann. Sie steht mit beiden Beinen im Leben und hilft auch ab und zu in der Werkstatt mit – ein Ölwechsel ist kein Problem für sie. Doch dann bekommt ihr Vater ein Angebot, das er kaum ablehnen kann. VW ermöglicht ihm, ein Autohaus zu eröffnen und unterstützt ihn finanziell. Allerdings hat die Sache einen Haken für Sonja. „Die Firma VW bietet dir eine einmalige Gelegenheit für deine unmittelbare Zukunft“, eröffnet ihr der Vater. Die Firma bezahlt ihr ein „privates Institut, erstklassig geführt“. Eine Hauswirtschaftsschule, eine Bräuteschule, in der junge Frauen auf ihre Hausfrauenrolle vorbereitet werden. Sonja ist entsetzt und wütend. So hat sie sich das nicht vorgestellt, aber eine Absage würde den Vater bei VW in ein schlechtes Licht rücken und so fügt sie sich schließlich mit dem Gedanken, dass die kaufmännischen Kurse dadurch ja nur aufgeschoben werden.
Schnell findet sie sich im Institut in die Gemeinschaft ein, lernt die anderen Mädchen kennen und viele davon schätzen. Auch ein paar Herrenbekanntschaften sind dabei: der „Schöne Walter“, der die Lebensmittel für die Küche bringt, geht ihr nicht aus dem Kopf und auch Jürgen, einer der jungen Männer, die während des Tanzkurses für die Schülerinnen an die Schule kommen, gefällt ihr sehr gut. Beide werden eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen.
Doch Sonja ist auch politisch interessiert. Vor allem die Vorgänge im Osten der Stadt berühren sie. Dort lebt ihr Onkel, der als überzeugter Sozialist alles verteidigt und unterstützt, wofür die DDR-Regierung steht. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und Sonjas Familie sind trotz enger Verbundenheit vorprogrammiert.
Als Mitte Juni 1953 die Arbeiterproteste in Ost-Berlin stattfinden, kann Sonja nicht anders: Sie muss dorthin, auch wenn es gefährlich werden könnte. Durch die Krankenschwester Ulla, die ihr dort im Tumult wieder auf die Beine hilft, lernt sie das Notaufnahmelager für DDR-Flüchtlinge in Marienfelde kennen und beginnt sich dort zu engagieren. Und auch hier gibt es mit Dr. Kemberg einen Mann, der ihre Gedanken beschäftigt.
Corinna Mell lässt in ihrem Buch „Marienfelde“ die 50er- und 60er-Jahre aufleben. Die Atmosphäre der frühen Bundesrepublik mit ihrem Wirtschaftswunder und den politischen Querelen zwischen BRD und DDR wird spürbar, das Leben und Lieben von Sonja, ihrer Familie, ihren Freundinnen und Freunden bewegt und rührt an.
Gleich zu Beginn des Romans habe ich mich in eine tuschelnde und kichernde Klasse junger Mädchen versetzt gefühlt, das Lebensgefühl und die Aufbruchstimmung haben mich mitgerissen.
Zwischendurch hat die Geschichte aber auch manchmal ihre Längen, vor allem in der zweiten Hälfte des ersten Teils gibt es Passagen, die mir persönlich zu ausführlich sind. Mit dem Mauerbau 1961 nimmt sie allerdings wieder Fahrt auf und die Spannung steigt.
Insgesamt ist „Marienfelde“ ein empfehlenswerter Roman für alle, die sich für die deutsche Geschichte der Nachkriegszeit interessieren und sich gerne in eine andere Zeit entführen lassen, in der die Gesellschaft in Richtung Fortschritt strebt, aber doch noch in der Tradition verhaftet ist. Corinna Mell verknüpft die Zeitgeschichte in ihrem Buch geschickt, gut lesbar und gefühlvoll mit dem Leben, Lieben und Leiden einer jungen Frau und ihres Umfelds.
Corinna Mell: Marienfelde.
Droemer, Dezember 2018.
480 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.
Ein unterhaltsames Buch für den Urlaub…in die Tiefe gehen weder die Darstellung der Charaktere noch die politischen Ereignisse, aber das stört bei leichter Lektüre ja nicht 😉