William Boyd: Die Fotografin

fotoAmory Clay ist auf dem besten Weg, ein Stipendium für Oxford zu bekommen, als ihr Vater, traumatisiert vom Ersten Weltkrieg, sich und seiner Lieblingstochter das Leben nehmen will. Nach dem verhinderten Freitod ist alles anders. Amory schafft nicht mehr den erforderlichen Notendurchschnitt, der Vater wird in einer geschlossenen Psychiatrie für Jahre weggesperrt, während der Mutter und ihren Geschwistern im rasanten Tempo das Geld ausgeht. Amory will in dieser Situation unbedingt eigenes Geld verdienen. Deshalb geht sie bei ihrem Onkel in die Lehre, der sich mit Porträtaufnahmen einen Namen gemacht hat. Schnell wird ihr klar, sie muss berühmt werden, um in der Menge der Fotografen aufzufallen. Zum Beispiel durch einen Skandal und noch nie öffentlich gezeigten Bildern. Ihre sind nachts in Berliner Bordellen entstanden. Die Macht des Staates lernt sie nach ihrer ersten Ausstellung kennen. Später als Kriegsfotografin im Zweiten Weltkrieg und in Vietnam.
William Boyd, geboren 1952 in Ghana, hat seinen neuen Roman »Die Fotografin« geschickt aufgebaut, in dem er das Leben einer eigenständig denkenden Frau im zwanzigsten Jahrhundert wie eine Biographie schreibt. Die Ich-Erzählerin lädt den Leser ein, ihr Leben von der Wiege bis zur Bahre zu begleiten, die zum Teil mit Fotos scheinbar »dokumentiert« werden. Natürlich ist die starke Amory Clay, 1908 bis 1983, eine Erfindung des Autoren, die vor einem geschichtsträchtigen Hintergrund ihr abenteuerliches Leben hat. Die Stationen in England, Berlin, Paris, New York, Vietnam, mal reich, mal arm, mal Single, mal verheiratet oder verwitwet, mal in der gehobenen Gesellschaft, mal unter Huren, Nazis, Soldaten zeigen ein buntes Leben, in dem nach jedem ab auch ein auf möglich ist. Die Detailfülle unterfüttert den Bericht der »Zeitzeugin« Amory, die als Beobachterin in prägnanten Episoden nah am Geschehen dran ist. Dies hat zur Folge, dass auch der Leser die Distanz eines Beobachters wählt. Das Objektiv der Fotografin filtert dabei automatisch die Empathie. Die Ereignisse sehen echt aus, schmecken echt, aber rinnen seltsam geglättet vorbei.
Besonders eindringlich wird Amorys Suche nach der verschwundenen Tochter erzählt. Bis zuletzt gibt sie nicht auf. William Boyds Roman macht deshalb Mut und unterhält zugleich.

William Boyd: Die Fotografin: Die vielen Leben der Amory Clay.
Berlin Verlag, Februar 2016.
560 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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