Berlin, 1935: Die Mittvierziger Mathis und Meta leben mit Metas Bruder Ernsti gemeinsam in einer Wohnwagensiedlung einiger Artisten. Hitler ist an der Macht und seine Rassengesetze erschweren den Artisten die Arbeit. Die wenigsten von ihnen dürfen überhaupt noch einer Tätigkeit nachgehen und viele sind bereits einfach verschwunden. Manche sind geflohen, andere wurden von der Polizei abgeholt und nie wiedergesehen. Als dieses Schicksal auch Metas geistig behindertem Bruder zustößt, will diese nicht einfach tatenlos zusehen. Und Mathis wäre nicht Mathis, wenn er seiner Freundin nicht helfen würde. Dabei würde er viel lieber an seinem geheimen Buch über die vergessenen Artisten, jene an deren Namen sich niemand mehr erinnert, weiterschreiben …
Vera Buck ist ein besonderer Roman gelungen. Auf gut 750 Seiten lässt sie in zwei zeitlich abgegrenzten Abschnitten die Welt der Artisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zur Zeit Hitlers lebendig werden. Der erste Handlungsstrang findet 1902 statt und begleitet den 15-jährigen Mathis auf seinem Weg von einem langweiligen Dörfchen und seinem Dasein als Bohnenbauerssohn hin zu einer Karriere auf der Straße. Er schließt sich einem Mann an, der mit einer sonderbaren Maschine durch die Lande zieht. Mit ihr kann man die Menschen wie durch Geisterhand durchleuchten und ihre Knochen sehen. Mathis verliebt sich sofort in die Maschine. Als er zwei Jahre später auf Meta trifft, verfällt er auch der muskulösen und selbstbewussten Kraftfrau. Der zweite Handlungsstrang setzt 1935 an, als Mathis an einer seltsamen Krankheit erkrankt ist und bereits mehrere Finger seiner Hand verloren hat. An Metas Seite steht er noch immer, auch wenn ihr geistig behinderter Bruder Ernsti ihm zweifellos das Leben schwer macht. Das Leben als Artisten ist allerdings noch härter geworden als 1902 und so beschließt Mathis, ein Buch über all jene zu schreiben, die bereits verschwunden sind und drohen, in Vergessenheit zu geraten.
Trotz all seiner Länge wird der Roman selten langweilig. Die Autorin springt geschickt zwischen den beiden Handlungssträngen hin und her und versteht sich – leider, muss man sagen – sehr gut darauf, immer im spannendsten Moment das Kapitel zu wechseln. So möchte man immer gerne weiterlesen und erfahren, was im Anschluss passiert. Ihre Figuren hält Vera Buck sehr lebendig. Selbst bei den zahlreichen Nebencharakteren hat man oft das Gefühl, dass man sie auf wenigen Seiten sehr gut kennenlernt. Und wer hätte gedacht, dass in einem Buch über Menschen, die unter Hitlers Tyrannei litten, auch Humor eine so wichtige Rolle spielen würde? Ja, „Das Buch der vergessenen Artisten“ hat auch vielfach sympathischen Humor und sei es nur in der Verzweiflung von Mathis gegenüber dem unbelehrbaren Ernsti, der regelmäßig Sachen von Mathis zerstört, von seiner Schwester Meta aber stets in Schutz genommen wird.
Vera Buck wendet sich einem Thema zu, das noch nicht allzu oft in der unterhaltsamen Literatur seinen Platz gefunden hat. Sie wirft einen Blick auf die kleinen Leute, weniger auf bekannte und namhafte Künstler, die natürlich ebenfalls unter dem Hitler-Regime zu leiden hatten. Ihr kommt es darauf an, auch die Situation der Normalbürger zu schildern. Jene, die viel Aufwand betreiben mussten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Eben die kleinen Künstler und Artisten. Sie erhalten in „Das Buch der vergessenen Artisten“ eine Stimme und ihre meist ausweglose Situation wird greifbar. Am Ende möchte man den Roman kaum aus der Hand legen.
Ein ganz besonderer Roman über ein wichtiges Thema, talentiert in Szene gesetzt und trotz seiner Dicke nicht einen Moment langweilig!
Vera Buck: Das Buch der vergessenen Artisten.
Limes Verlag, September 2018.
752 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Janine Gimbel.