Ule Hansen: Neuntöter, gelesen von Friederike Kempter

neunSkurril inszenierte Zurschaustellung von drei Leichen. Hoch oben an einem Baugerüst mitten in Berlin am Potsdamer Platz hängen sie öffentlich, jeder könnte sie sehen. Aber sie bleiben erstmal unbemerkt, eingewickelt wie Mumien in einem Kokon aus Panzertape, ihr Blick ausgerichtet in dieselbe Richtung. Gefunden werden sie durch Zufall, durch einen neugierigen Jungen, der Freude am Klettern hat…
Emma Carow wird als verantwortliche Fallanalystin mit ihrer Abteilung der operativen Fallanalyse im Fall der „Mumienmorde“ als Unterstützung für die Ermittlungen des Landeskriminalamts beauftragt. Eine Bewährungsprobe für die sozial inkompetente Profilerin, die sich mit ihrem begnadeten analytischen Verstand auf die grausamsten Täter einzulassen und deren perfide Denkweise und Taten zu rekonstruieren vermag, sich dem Hörer aber innerlich völlig zerrissen und traumatisiert präsentiert. Für ihre schwangere Vorgesetzte Brennemann ist Emma die fast perfekte Schwangerschaftsvertretung, wäre da nicht Emmas Unvermögen ein Teamspieler zu sein. Emma, nahezu unfähig eine kollegiale Haltung zu zeigen, bietet eine überhebliche und rechthaberische Haltung gegenüber ihrem Team dar, die sie als qualifizierte Kollegin zwar akzeptieren, aber unterschwellig ablehnen. Sie selbst behauptet von sich Menschen zu mögen, was aber nicht für ihre Arbeit gilt, denn hier bevorzugt sie die Abwesenheit der Menschen. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für den Posten der Abteilungsleitungsvertretung. Zudem kommt ein neuer Kollege ins Team, Felix Schreiner. Auch er hat es auf den Posten abgesehen und er weiß, wie man sich bei Kollegen beliebt macht.

Als Emma erste Theorien im Fall „Mumienmorde“ konstruiert, reagieren ihre Kollegen, allen voran Felix Schreiner, mit Skepsis. Einig ist man sich allerdings darüber, dass es sich um mehrere Täter handeln muss, die ihre Opfer erst nach deren Ermordung an den Fundstellen in grotesker und aufwendiger Weise zur Schau stellen. Doch mehr und mehr wird deutlich, dass Emmas Überlegungen ihre Berechtigung haben und ihre Vorhersage, weitere Morde sind und würden noch geschehen, sich bewahrheitet. Wieder werden aufgeknüpfte Leichen in dieselbe Richtung blickend an einem zwar allgemein zugänglichen, aber doch für die Öffentlichkeit nicht offenkundigen Ort gefunden. Auch diese Opfer starben einen langsamen und grausamen Tod, eingewickelt wie Mumien in Panzerband. Für die Ermittler bieten sich langsam die perfiden Charaktere der Täter dar, denn jede der Leiche war in seiner Vergangenheit ein Opfer sexueller Gewalt und Missbrauch.
Die Ermittlungen führen auch zu einer Gruppe die sich Urbexer nennt. Sie sind darauf spezialisiert, verlassene, teils unzugängliche und teils gefährliche Orte sogenannte „Lost Places“ zu ergründen. Emma nimmt inkognito Kontakt auf und ermittelt auf eigene Faust.

Immer tiefer gerät sie in den Strudel der Morde, lässt sich auf eine gefährliche, dunkle Sex-Affäre ein, verliert sich fast in dem Fall sowie ihren persönlichen Problemen und stößt die ihr zugewandten Menschen vor den Kopf. So auch ihren Mentor Lutz Bogner, der das Ermittlungsteam der Polizei leitet. Mit aller Macht will Emma den Fall lösen, die Mörder überführen und ihr Leben wieder in den Griff kriegen. Aber die hochbegabte Fallanalystin ist auch die zutiefst verstörte Frau, die trotz ihrer guten Instinkte und ihres messerscharfen Verstands nicht wahrnimmt, wie nah sie den Mördern wirklich kommt…

Friederike Kempter hat eine markante Stimme, die ich allerdings eher mit den weiblichen Rollen identifizieren kann, als mit den männlichen. Die Rolle der Emma Carow spricht Friederike Kempter mit solch unbeirrbarer Intensität, Feinfühligkeit, Verletzlichkeit und  gleichzeitig Durchsetzungsvermögen und Härte, dass man meinen könnte, sie selbst sei diese zerrissene Profilerin. Ganz phantastisch! Mit Emma Carow hat das Autorenduo Astrid Ule und Eric T. Hansen eine sehr ungewöhnliche Fallanalystin und eigenmächtige Ermittlerin geschaffen. Sie fasziniert mich in einer besonderen Art und Weise, sie nimmt mich mit durch ihre Höhen und Tiefen und begeistert mich am meisten an diesem Hörbuch. Natürlich sind die Morde spektakulär inszeniert und sehr grausam und spannend aufgebaut, aber für mich hätten sie nur einen Hauch dieser Spannung, gäbe es da nicht den zerrissenen Charakter der Emma Carow. So erfährt man, dass sie seit ihrer grausamen Vergewaltigung, auch mit der Begleitung durch eine Therapeutin nur oberflächlich ihre Traumatisierung bewältigen kann. Besonders da sie miterleben muss, wie ihr scheinbar geläuteter Vergewaltiger seine Erlebnisse und seine Wandlung zum Gutmensch in einem Buch verewigt und eine Popularität genießt, die auch für den Hörer beschämend und kaum aushaltbar ist. Wie sich das auf ihren Berufsalltag auswirkt, welche extrem sprunghaften Entscheidungen sie trifft, dass man ihr so manches Mal entgegen schreien will „tu das nicht!“, kann man sich denken. Also sollte man auf jeden Fall Emma Carow inmitten all dieser Grausamkeit erleben und sich von Friederike Kempters Stimme fesseln lassen!

Ule Hansen: Neuntöter, gelesen von Friederike Kempter.
RandomHouse Audio, Februar 2016.
1 mp3-CD, 13,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Steffi Scheffer-Thielmann.

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