Der Vater der verwöhnten Hamburger Reederstochter Viktoria Virchow begeht 1880 Selbstmord, nachdem er sein Geschäft in den Ruin getrieben hat. Viktoria wird von ihrem Verlobten Anton verlassen und steht mittelos da. Ihr bleibt einzig ein exotischer Drachenarmreif aus China, den ihr Vater ihr zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hat. Viktoria findet in Shanghai eine Anstellung als Gesellschafterin der reichen Engländerin Margaret Huntingdon, die durch einen Schlaganfall halbseitig gelähmt und ans Bett gefesselt ist.
Das Klima im Haus der Huntingdons ist frostig. Margaret hält nicht viel von ihrem Sohn Robert, der in einer unglücklichen Ehe mit Emily lebt. Viktoria stößt auf ein dunkles Familiengeheimnis, das sich um Andrew rankt, den zweiten Sohn Margaret Huntingdons, über dessen Verbleib niemand in der Familie spricht. Ein Jadering und ein geheimnisvolles Schriftstück aus den Zeiten des Taiping-Aufstandes geben Viktoria Rätsel auf.
Auch fällt es ihr schwer, sich in Shanghai einzugewöhnen. Die Angehörigen der Kolonialmächte leben abgeschottet und in Luxus in einem eigens für sie erbauten Stadtteil und Viktoria begegnet Chinesen nur als Hausangestellten oder Dienstboten. Auf einem heimlichen Ausflug in den chinesischen Teil der Stadt lernt sie das Leben der Einheimischen kennen. Sie ist schockiert über das Elend der Bewohner und ihre unvorstellbar ärmlichen Lebensumstände. Sie rettet einem Waisenjungen, der vor seinem Sklavenhalter zu fliehen versucht, das Leben und schmuggelt ihn in das Haus der Huntingdons. Robert Hundtingdon, dem Viktoria schon seit ihrer Ankunft ein Dorn im Auge ist, ergreift die Gelegenheit beim Schopf und entlässt sie.
Mit Margaret Huntingdons Hilfe findet sie eine Anstellung bei dem Mandrin Lao Tengfai in Peking, in dessen Haus sie seine Kinder in der englischen Sprache unterrichten soll. Der Waisenjunge, dem sie den Namen Dewei gegeben hat, begleitet sie in die Fremde. Viktoria freundet sich mit Chuntian an, der dritten Frau Lao Tengfais. Nach einem verbotenen Ausflug der beiden, bei dem Chuntian ihre Mutter Yazi und ihren Halbbruder Jinzi, einen Akrobaten, aufsucht, schickt Lao Tangfai Chuntian zur Strafe fort. Aus Empörung packt Viktoria ihre Sachen und verlässt Hals über Kopf zusammen mit Dewei das Haus des Mandarin. Sie findet Unterschlupf bei Yazi und deren Sohn Jinzi, zu dem sich Viktoria sofort hingezogen fühlt. Hier erfährt sie eine unglaubliche Geschichte, in die auch Margaret Huntingdons jüngerer Sohn Andrew verwickelt zu sein scheint. Gemeinsam mit Jinzi und Dewei macht Viktoria sich auf, das Geheimnis zu ergründen.
Auf den ersten Seiten erweckt der fünfte Roman Tereza Vaneks den Eindruck, dass es sich um eine bekannte und vorsehbare Auswanderersaga handelt im Stil „unbedarfte Heldin muss in exotischer Fremde allerlei Abenteuer bestehen, um ihren Geliebten zum Schluss endlich in die Arme schließen zu dürfen“. Doch die Autorin überrascht mit einer kenntnisreichen und einfühlsam erzählten Geschichte, die weit aus der Menge historischer Romane herausragt. Ihre Heldin Viktoria ist glaubwürdig gezeichnet und durchläuft eine nachvollziehbare Wandlung von der bornierten Angehörigen einer Kolonialmacht zu einer erwachsenen Frau, die ihre Vorurteile über Bord werfen kann und ein tiefes Verständnis für die Kultur des Landes entwickelt, in das es sie verschlagen hat. In jedem Satz spürt man Tereza Vaneks Faszination und Liebe zu der chinesischen Seele und staunt über das Wissen der Autorin über dieses Land, das Europäern so fremd erscheint.
Den Mittelteil des Romans nimmt die Schilderung des Schicksals von Yazi ein, die von ihren Eltern an den homosexuellen Sohn eines chinesischen Mandarins verkauft wird und aus ihrer unglücklichen Ehe flieht. Sie dient im Taiping-Aufstand in der Truppe des Hong Xiuquan, wo sie gleichberechtigt mit den Männern Seite an Seite kämpft. Hong Xiunquan (1814-64) erfuhr durch das Traktat eines europäischen Missionars erstmals vom christlichen Glauben und hielt sich nach einem Traum für den zweiten Sohn Gottes neben Jesus. 1851 rief Hong Xiuquan das Himmlische Königreich aus. Innere Konflikte innerhalb der Taiping-Bewegung führten ab 1856 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen unter den Anführern und läuteten den Untergang des Taiping-Reiches ein. 1864 starb Hong Xiuquan an einer Lebensmittelvergiftung und kaiserliche Truppen unterwarfen seine Anhänger.
Tereza Vanek schildert dieses in Europa kaum bekannte Kapitel chinesischer Geschichte fesselnd und mit großer Sachkenntnis. Ihr gelingt es, sich ganz und gar in die Chinesin Yazi einzufühlen und dem Leser einen tiefen Blick in die chinesische Kultur zu gewähren, in der Mädchen wenig zählen und zu Demut und Unterwerfung erzogen werden, die Familie über allem steht und den Eltern absoluter Gehorsam geschuldet wird.
Dem Leser ergeht es wie Viktoria Virchow nach ihrer Rückkehr und der Wiederaufnahme in die europäische Gesellschaft Shanghais. Die europäische Küche schmeckt fade, die Gespräche der feinen Gesellschaft sind oberflächlich und langweilig und die Manieren überheblich und unverschämt. Wie Viktoria wünscht sich der Leser zurück in das farbenfrohe und intensive Leben der Chinesen trotz der Missstände und Rückständigkeit, die der Roman Tereza Vaneks nicht verschweigt.
Fazit: Für mich ist „Das Geheimnis der Jaderinge“ einer der besten historischen Romane der letzten Jahre. Auf keinen Fall entgehen lassen!
Tereza Vanek: Das Geheimnis der Jaderinge.
Bookspot Verlag, Dezember 2011.
656 Seiten, Gebundene Ausgabe, 16,95 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Martina Sprenger.