Sofia Lundberg: Ein halbes Herz

Elin lebt mit ihrem Mann Sam in New York. Seit die gemeinsame Tochter Alice in ein Zimmer im College gezogen ist, leidet Sam verstärkt darunter, dass bei Elin der Beruf deutlich mehr als das halbe Leben einnimmt. Sie geht in ihrer Tätigkeit als Porträt-Fotografin auf und versteckt sich (und vor allem ihr Inneres, ihre Gefühle) hinter der Linse. So wahrt sie die Distanz zwischen sich und der Welt, die sie braucht, um einigermaßen stabil zu bleiben. Sie scheint nicht zu merken, dass ihre Beziehung zu Sam und Alice dicht am Zerbrechen ist. Selbst ein Essen mit den Schwiegereltern oder die Termine bei der Paartherapie verschwitzt sie oder lässt sie für einen dringenden Auftrag sausen.

Als sie von ihrem Jugendfreund Fredrik eine Karte aus ihrer Heimat Schweden bekommt, bricht ihre verdrängte Vergangenheit über sie herein. Lange hat es Elin geschafft, sich gegen die beängstigenden Erinnerungen zu wehren und sich ihren Verletzungen nicht zu stellen. Und auch jetzt kann sie oft einfach nicht aus ihrer Haut. Ihre Strategie gegen alles, wovor sie sich fürchtet, ist der Rückzug hinter die Kamera.

Doch langsam bricht ihr Panzer auf. Plötzlich erinnern sie Kleinigkeiten an ihre Kindheit, die sie in ärmlichen Verhältnissen auf Gotland verbracht hat, an ihren kriminellen Vater und die überforderte Mutter, aber auch an ihre Freundschaft mit Fredrik und der Ladenbesitzerin Gerd. Nicht einmal ihrer Familie hat sie davon erzählt. Denn sie befürchtet, dass die Schuld, die sie damals von dort fortgetrieben hat und die sie seither mit sich herumträgt, dazu führt, dass sich Sam und Alice von ihr abwenden. Nun geschieht genau das, weil sie schweigt.

Sofia Lundberg erzählt die Geschichte ihres Romans „Ein halbes Herz“ auf zwei Zeitebenen. Wir folgen der Elin von 2017 in ihren inneren Konflikten, die sie mit einem kühlen Wesen und emotionaler Unnahbarkeit kaschiert. Nie scheint sie wirklich glücklich und gelöst. Im Beruf überzeugt sie durch ihre Professionalität, doch ihr Privatleben fordert mehr, als sie zu geben imstande ist. Die Figur wirkt auf mich zuweilen etwas eindimensional und zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie wälzt ihr Trauma hin und her, schafft es aber nicht, in dessen Tiefe vorzudringen und verweigert sich gleichzeitig jeglicher Hilfe. Ich kann sie oft nicht verstehen und möchte sie schütteln, um sie wachzurütteln. Ihr Verhalten ist für mich an einigen Stellen nicht nachvollziehbar und auch nicht mit ihrer persönlichen Geschichte erklärbar. Sam bleibt relativ blass und auch mit Alice werde ich nicht richtig warm. Hier hätte ich mir eine differenziertere Ausarbeitung der Charaktere gewünscht.

Die kleine, zehnjährige Elin, die Ende der 1970er Jahre auf einer schwedischen Insel lebt, ist quicklebendig und ein Mädchen, das man einfach gernhaben muss. Sie versorgt ihre beiden kleinen Brüder, wenn die Mutter ihre Aussetzer hat, ist beliebt und (manchmal vielleicht zu) verantwortungsbewusst. Trotzdem bewahrt sie sich ihre Neugier und Offenheit, liest viel und guckt mit Fredrik in den Himmel. Dieser Erzählstrang hat mich sofort mitgenommen. Das verzweifelte Streben nach dem Nötigsten, die Auswirkungen des Alkohols und die Dominanz mancher Männer, aber auch die Warmherzigkeit von Gerd und der betagten Nachbarin Aina, die tiefe Verbundenheit zwischen Elin und Fredrik, ihre kleinen Fluchten an den Strand und zu den Sternen – all das ergibt für mich ein wunderbar rundes Bild.

Deshalb bin ich etwas hin- und hergerissen. Der Erzählstrang im Jahr 2017 ist durchaus gut zu lesen, hat mich aber nicht vollständig überzeugt. Zudem haben einige Rechtschreibfehler mein Lesevergnügen etwas geschmälert. Immer wenn der Text in der Zeit zurückgesprungen ist, konnte ich in die Geschichte eintauchen, mit Elin und den anderen lachen und glücklich sein oder ihre Ängste und Trauer teilen. Und vor allem darum lohnt es sich, „Ein halbes Herz“, das in Schweden ein Bestseller ist, zu lesen.

Sofia Lundberg: Ein halbes Herz.
Goldmann, März 2020.
416 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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