Sira Huwiler-Flamm: Hinter dem Tellerrand: Warum uns erst Essen zu Menschen macht

Der Untertitel, Warum uns erst Essen zu Menschen macht, ist grammatisch betrachtet das kühne Ergebnis intensiver Recherchen. Die Journalistin und Autorin Sira Huwiler-Flamm hat diese in 20 Thesen zerlegt und beschreibt informativ und kurzweilig, warum Essen für uns so essenziell ist. Weil bekanntlich alles einen Anfang haben muss, beginnt sie mit den scheinbar einfachen Fragen. Sind wir Menschen beziehungsweise menschlich, weil wir eine Speise zubereiten, um sie im besten Fall mit anderen zu teilen? Und darüber hinaus: Entwickeln wir eine Esskultur, wenn Essen höheren Zielen dient als dem schlichten Erhalt des Körpers? Diesem Körper könnte es egal sein, ob er beim geistigen Austausch mit anderen eine genussreiche Nahrungsaufnahme erfährt oder mit irgendetwas den Magen gefüllt bekommt. Sättigung und guter Geschmack reichen auch dann nicht, wenn fehlende Nährstoffe, Vitamine und anderes zu einer Mangelernährung führen.

Wer hungert oder über wenig Geld verfügt, dürfte möglicherweise andere Ansprüche haben. Ganz nach dem Motto: Hauptsache billig und sättigend. Vielleicht erinnert man sich beim Essen an die Volksweisheit, dass der Hunger der beste Koch sei.

Mit ihren weitreichenden Argumenten zeigt die Autorin, dass es beim Essen für das Menschsein um sehr viel mehr geht. Man könnte ihre Auslegungen auf ein paar Stichworte reduzieren: Essen ist Kultur, Genuss, ein Appell an alle Sinne, Grundlage für viele Berufe, ein gesellschaftliches Bindeglied, Marketing, Lebensstil, für sehr schlanke Menschen ein Feind, wirtschaftlich ein Politikum oder eine Tragödie, wenn Pflanzen und Tiere portioniert nur noch Bestandteile einer Produktwelt sind. Oft sind sie formschön verpackt und beworben, nachdem sie so billig und so rentabel wie möglich zu Fertignahrung verarbeitet worden sind.

Genau genommen geht es um alles und gleichzeitig um eine grundsätzliche Haltung dem Essen gegenüber, die Sira Huwiler-Flamm ihrer Leserschaft plausibel näher bringt.

Wer Essen „nur“ konsumiert, unterstützt eine bestimmte Form der Nahrungsherstellung. Und wenn Menschen massenhaft nur wenige Hersteller durch ihr Kaufverhalten finanziell unterstützen, dann verarmt jede Esskultur und sicherlich auch die Qualität des Essens.

Qualität hat ihren Preis; gut und billig kann nicht funktionieren, denn das eine schließt das andere automatisch aus und darf nicht mit einfach und preiswert verwechselt werden.

Bei der fiktiven Frage nach ihrer bevorzugten Henkersmahlzeit im zweiten Teil des Buches entscheiden sich die meisten Sterneköchinnen und Sterneköche für ihr Lieblingsgericht aus ihrer Kindheit. Sie haben darin Gefühle, Wärme und Geborgenheit verankert und erinnern sich an die von der Mutter oder Großmutter liebevoll zubereitete Mahlzeit. Darauf könnte es beim Essen immer hinauslaufen, mit Liebe gekocht und mit Liebe gegessen. Die Autorin würde für ihre fiktive Henkersmahlzeit die Butterbrezel auswählen, um den Geschmack ihrer Heimat zu spüren.

Der Sternekoch Christoph Rüffer zitiert in seinem Interview eine Aussage, die Winston Churchill zugeschrieben wird: „Man sollte dem Körper etwas Gutes tun, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ (S. 209)

Sira Huwiler-Flamm: Hinter dem Tellerrand: Warum uns erst Essen zu Menschen macht
Westend, Juni 2025
240 Seiten, kartoniert, 22,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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