Jule hat das Trennungstrauma ihrer Eltern, das sie seit ihrer Kindheit begleitet, nie überwunden. – Das hört sich nach Problemen und Tragik an. Doch der jungen Protagonistin folgt man sehr gern durch ihr reichlich verkorkstes Leben, weil die Geschichte sehr einfühlsam und gleichzeitig urkomisch daherkommt.
Nie konnte Jule richtig Kind sein, weil sie stets Verantwortung für ihre depressive Mutter übernommen hat. Ihrem Vater ist sie ewig böse, weil er die Familie im Stich gelassen hat.
Telefonanrufe der Mutter versucht sie zu ignorieren. Den Kontakt zum Vater hat sie abgebrochen, seine Geldzahlungen rührt sie nicht an.
Halbherzig jobbt sie drei Abende in der Woche als Sängerin in einer Bar, anschließend lässt sie sich ebenso halbherzig auf Sex mit ihrem Chef ein.
Obwohl ihr Freund Tim ihr sicherer Anlaufhafen ist, gefährdet sie die Beziehung. Wieder läuft sie dem Leben davon, flüchtet sich zu ihrem Bruder nach England, wo auch ihr Vater lebt. Nach kurzer Zeit lässt sie die WG ihres Bruders in London hinter sich und fährt ans Meer, das seit jeher eine Faszination auf sie ausübt. Endlich beginnt Jule über sich nachzudenken. Sie hinterfragt, warum sie sich ständig fremd in der Welt und in sich selbst fühlt, warum sie nie den richtigen Platz im Leben gefunden hat, obwohl sie immer auf der Suche danach war.
Sie überwindet sich und besucht ihren krebskranken Vater.
Am Ende spürt Jule, dass der Versuch über den eigenen Schatten zu springen, sich richtig anfühlt.
Sarah Kuttner würzt die persönliche Misere ihrer Protagonistin mit origineller Fantasie und so viel sprühendem Witz, dass bei aller Tragik von Jules Schicksal jegliche aufkeimende Melancholie von einer herrlichen Leichtigkeit getragen wird.
Sarah Kuttner: 180 Grad Meer.
Fischer, Dezember 2015.
272 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.