Die Idee könnte aus einem Kinderbuch stammen: ein Haus erzählt seine Geschichte. Berliner Gründerzeit, um 1890, Wedding! Da wurde dieses, damals prachtvolle Haus erbaut. Heute verdammt in die Jahre gekommen und nahezu abbruchreif. Allerdings hat es die Kriege überlebt, aber so wie es aussieht, wohl nicht mehr das heutige Spekulantentum.
Es gibt drei Haupterzählstränge: die von Getrud, Leo und Leila. Gertrud, hoch in den Neunzigern, Leo ebenso und Leila die noch mitten im Berliner Alltagsdurcheinander lebt, ausgerechnet als Sozialarbeiterin. (so eine Art Quartiersmanagerin im Neusprech) Gertrud hat seit Jahrzehnten das Haus nicht mehr verlassen, Leo ist aus Israel angereist und Leila, die gar nicht weiß, dass einst ihre Sintifamilie hier gelebt hat. Diese drei tragen die Hauptlast der Geschichten, die von großer, profunder Kenntnis sind! Von der Judenverfolgung, der Sinti und Roma Verjagungen aus und in ganz Europa, des Naziterrors, und der langsamen Inanspruchnahme des Hauses durch alle möglichen Ethnien, zuerst der Wolga- und Russlanddeutschen und heute das prekäre Leben bulgarischer und/oder rumänischer Großfamilien beherbergt.
Die Verästelungen und die Tiefe der Beschreibungen mögen manchmal anstrengend sein, es lohnt sich allemal dabei zu bleiben. Das Buch sollte zur Schulliteratur werden, denn selten kommt man in einer Gleichzeitigkeit die heutigen Probleme Israels und der Geschichte des Landes so nahe und noch seltener findet man so rührende Beschreibungen von Freundschaft im Untergrund im Widerstand gegen den Naziterror. Gertrud und Leo, haben das alles gesehen und erlebt und was das menschliche Auge nicht zu sehen oder zu verstehen vermag, das verbindet das Haus selbst mit seinen Worten und raunt uns die schlimmen und die schönen Geschichten aus den Zimmern und Wohnungen und aus den vielen Jahrzehnten zu.
Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding.
Penguin Verlag, April 2020.
432 Seiten, Taschenbuch, 12,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Fred Ape.