Peter von Matt: Sieben Küsse: Glück und Unglück in der Literatur

„Küsse sind das, was von der Sprache des Paradieses übriggeblieben sind“, wird der Schriftsteller Joseph Conrad zitiert. Und tatsächlich folgen Küsse einer ganz eigenen (Körper-) Sprache, inklusive Subtext. Nach der Lektüre dieses Buches werden Sie viele Klassiker der Weltliteratur mit ganz anderen Augen sehen. Garantiert! Peter von Matt, renommierter Professor für Germanistik an der Universität Zürich, beleuchtet das universelle Thema „Glück und Unglück“ anhand sieben großer Kuss-Szenen. Ob „The Great Gatsby“, „Mrs. Dalloway“, „Die Marquise von O“ oder Marguerite Duras Werk „Moderato contabile“ – Küsse sind weit mehr, als das bloße Aufeinandertreffen zweier Münder. Nicht immer sind sie harmonisch, manchmal sind ihre Folgen unabsehbar. Die leidenschaftlichen, missverständlichen, maßlosen, imaginären, innigen und charakterformenden Küsse haben eines gemeinsam: Sie markieren einen Wendepunkt im Leben der Protagonisten. Danach ist nichts mehr so, wie es einmal war. Das ist fürwahr der Liebe Zauberkraft!

Wissen Sie, was sich hinter dem Begriff „Osculologie“ verbirgt? Dieses Wort ist nicht im deutschen Fremdwörter-Duden aufgeführt, dabei handelt es sich um einen der schönsten Zeitvertreibe seit Menschengedenken. Des Rätsels Lösung: „Osculologie“ wird die Wissenschaft vom Küssen genannt. Peter von Matt analysiert nicht nur berühmte Kuss-Szenen der Weltliteratur, sondern vermag auch mit solchen Hintergrundinformationen ungeahnte Wissenslücken aufzufüllen.

Warum Kussszenen so elementar zum Verständnis literarischer Gesamtwerke sind, macht der Autor deutlich. „Weil die Literatur immer konkret ist, denkt sie nicht in Begriffen, sondern in Szenen.“ Glück wird daher meist als die Begegnung zweier Menschen dargestellt. Hier zeigt sich die Zweischneidigkeit von Glück, „dass die Menschen wie ein Messer in der Brust mit sich herumtragen“.

Es lässt sie nach dem Maximum streben, ruft Obsessionen hervor, steigert und entwertet das Glück im selben Atemzug. Peter von Matt geht sogar so weit, Kussszenen den Todesszenen gleichzusetzen. Erst durch sie erhalten alle vorangegangenen Ereignisse den Charakter eines Schicksals. Gemäß den Worten von Friedrich Hölderlin „Einmal lebt ich wie die Götter, und mehr bedarf es nicht“, setzen manche Protagonisten ihren Status, ihre geistige Gesundheit, sogar ihr Leben aufs Spiel für diesen vollendeten Glücksmoment.

Die „Anatomie des akuten Glücks“ eines lebensverändernden Kusses, erfährt Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ in dem gleichnamigen Roman. Aus diesem Kuss (mit einer Frau) schöpft sie noch Jahrzehnte später so viel Kraft, dass sie weiterhin ihrer Rolle als vorzeigbare Ehefrau in einer längst erkalteten Ehe gerecht werden kann. Auch in Anton Tschechows „Der Kuss“ bereitet ein irrtümliches Zusammentreffen im Dunkeln dem unscheinbaren Soldaten Rjabovic ungeahnte Hochgefühle. Er badet in den Wonnen des Verliebtseins, ohne überhaupt eine Geliebte zu haben.

Die Stimme als erweiterte Verlockung des Mundes, nach dem antiken Vorbild der Sirenen, kommt sowohl in F. Scott Fitzgeralds „The Great Gatsby“ als auch in „Der arme Spielmann“ von Franz Grillparzer zum Tragen. Skandalöse Küsse finden ebenfalls ihren Platz. Dazu gehört die Kuss-Szene zwischen Vater und Tochter in „Die Marquise von O“ sowie der Kuss aus „Die Jungfrau als Ritter“ von Gottfried Keller. Hintergrund der Aufregung: Hier küsst die Jungfrau Maria in Form eines Mannes eine andere Frau! Ein mehrfacher Tabubruch, der nicht nur katholischen Geistlichen den Angstschweiß auf die Stirn getrieben haben muss.

Überhaupt fällt in dieser stimmigen Auswahl literarischer Küsse vor allem ein Aspekt ins Auge: Dies sind keine Dornröschen-Küsse, in denen das weibliche Geschlecht passiv auf sein Glück wartet. Es sind meist die Frauen, die direkt oder indirekt als die treibende Kraft jene körperlichen Begegnungen herbeiführen und ihr Gegenüber in emotionale Verwirrung stürzen.

Fazit: „Sieben Küsse“ ist ein aufregendes, hochinteressantes, sinnliches und lehrreiches Buch. Ein Muss für alle Literaturliebhaber – im doppeldeutigen Sinne! Außerdem ideal zum Verschenken für Valentins- und Hochzeitstage sowie alle (Frisch-) Verliebten.

Peter von Matt: Sieben Küsse: Glück und Unglück in der Literatur.
dtv, Dezember 2019.
288 Seiten, Taschenbuch, 12,90 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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