Ist es Verzweiflung oder Verdruss, ohne Vorplanung plötzlich aus dem Leben zu verschwinden? Verwegen und vor allem ganz schön wagemutig ist es auf jeden Fall.
Jeanne Patou, die Protagonistin in diesem Roman, hat nicht lange Zeit zum Überlegen. Sie hat bereits am Flughafen in Barcelona eingecheckt. Als sie im Boardingbereich eine schmale Öffnung an einer Baustelle bemerkt, schlüpft sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, unvermittelt hindurch und entfernt sich.
Die Autorin verknüpft reale Ereignisse mit fiktionaler Erzählweise: Sie greift den Flugzeugabsturz in den französischen Alpen im Jahr 2015 auf, bei dem alle Passagiere ums Leben kamen, als der depressive Copilot die Maschine im Bergmassiv zerschellen ließ.
Als Jeanne Patou noch im Flughafengebäude kurz darauf vom Absturz dieser Maschine, in der sie eigentlich gesessen hätte, erfährt, trifft sie eine folgenreiche Entscheidung. Sie beschließt, unter den Totgeglaubten zu verweilen und aus ihrem seitherigen Leben zu verschwinden. Alles hinter sich zu lassen, nicht zu ihrer Familie zurückzukehren, nicht zusammen das Glück zu feiern, überlebt zu haben, nicht das gewohnte Leben weiterzuführen, sondern tot zu bleiben, wird zur ungemeinen Herausforderung.
Als erfolgreiche und gefeierte Schauspielerin war Jeanne Patou bislang eine Person des öffentlichen Lebens, was alles noch weitaus mehr erschwert. Immer wieder steht Jeanne nun vor unerwarteten Problemen. Wie sie mit ihrer neuen Identität umgeht, was es bedeutet, alle Verbindungen zu Familie, Beruf und Freunden zu kappen, ist mit vielen Qualen verbunden.
In Gegenwartskapiteln aus dem Jahr 2019, die mit Rückblenden, hauptsächlich in Jeanne Patous Todesjahr 2015 wechseln, rast der Plot fast atemlos durch die Zeiten und Zeilen.
Zu großen Teilen ist die Geschichte aus Jeannes Sicht geschildert. Ihre Flucht in eine neue Identität, ihre Sehnsucht nach Freiheit und einem neuen Ich, basiert auf Jeannes Chance, unverhofft und ohne Kampf aus ihrer Ehe zu entkommen. Eigentlich genügend Stoff, um damit ein ganzes Buch zu füllen.
Doch die Handlung dreht sich nicht nur um Jeanne, sondern lässt auch Raum für Jeannes Mitbewohnerinnen in ihrem neuen Zuhause, mitten in Barcelona. Ebenso wie Jeanne Patou sind diese Frauen aus ihrem früheren Leben davongelaufen. Alle haben schlimmste Gewalterfahrungen und Traumata mit Männern hinter sich. Hierzu benennt Nina George entsprechende Fakten und Zahlen und greift weitere Frauenschicksale auf, die oft unbemerkt ein Leben am Rand der Gesellschaft fristen. Die Autorin setzt hier ihre Stimme für mehr Beachtung gegenüber Frauen ein, die unter männlicher Gewalt leiden, was absolut löblich ist. Jedoch erfährt die ohnehin sehr feministisch ausgeprägte Schreibhaltung hierdurch eine zunehmende martialische Gewichtung, die sich unnötig hochschaukelt und zu weit abdriftet.
Schade auch, dass sich das Ende wie ein von anderer Hand angeflickter, konstruierter Abschluss liest.
Insgesamt betrachtet punktet das Buch indes durch kluge Auslegungen, es lebt durch seine emotionale Tiefe und den turbulenten Plot. Auf jeden Fall aber ist „Die Passantin“ ein feministisches Leseabenteuer.
Nina George: Die Passantin.
Kein & Aber, August 2025.
gebundene Ausgabe, 320 Seiten, 26,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.