Auf über 700 Seiten entfaltet Jonas Hassen Khemiri in seinem Roman „Die Schwestern“ ein Panorama, das sich über 35 Jahre und mehrere Kontinente erstreckt. Im Mittelpunkt steht eine Familie, insbesondere die drei Schwestern Ina, Evelyn und Anastasia Mikkola. Die Geschichte beginnt mit dem jungen Jonas, der die Drei in seinem Stockholmer Viertel kennenlernt. Zwischen Nachbarschaft, Freundschaft, Geheimnissen und familiären Verstrickungen verweben sich ihre Biografien im Laufe der Jahrzehnte zunehmend miteinander.
Die familiäre Herkunft – der Vater ist Tunesier, die Mutter Schwedin – bringt eine Vielfalt an Perspektiven in die Erzählung, besonders spürbar in der facettenreichen Darstellung der drei Schwestern, die in ihrer Eigenart und inneren Zerrissenheit faszinieren. Im Verlauf des Romans werden Themen wie Identität, Migration, das Suchen und Verlieren sowie der Spagat zwischen Träumen und Realität einfühlsam aufgegriffen.
Immer wieder kehrt das Motiv zurück, dass alles Geliebte letztlich verloren geht, was der Erzählung sowohl Tiefe als auch eine gewisse melancholische Grundstimmung verleiht. Khemiri gliedert seinen Roman in 137 Kapitel, aufgeteilt in sieben Bücher. Seine Erzählweise ist verspielt, assoziativ und geprägt von langen, fließenden Sätzen. Besonders bemerkenswert ist die experimentelle Vermischung aus Metafiktion – die Hauptfigur trägt den Namen des Autors – und realistischen, berührenden Schilderungen zwischen Alltag und existenziellen Krisen. Stilistisch bewegt sich der Roman zwischen einem leichtfüßigen Ton, ironischen Brechungen und tiefer Emotionalität. Mit großem Feingefühl bringt Khemiri die Nuancen familiärer Bindungen, das Gefühl von Fremdsein und das Suchen nach Zugehörigkeit auf den Punkt. Die atmosphärische Dichte der Schauplätze – Stockholm, New York, Tunesien – lässt sie förmlich vor dem inneren Auge entstehen.
Die Charaktere, allen voran die drei Schwestern, sind mit eigenen Schwächen und Sehnsüchten außerhalb jeglicher Klischees gestaltet, was ihnen eine große Glaubwürdigkeit verleiht. Der innovative Aufbau mit Wechseln zwischen Zeiten, Perspektiven und Fiktionsebenen sorgt für eine lebendige und spannende Lektüre.
Gleichzeitig überzeugt der Roman durch sozialen und gesellschaftlichen Tiefgang, indem er Fragen nach Herkunft, Identität und Integration sowie nach Verwurzelung und Entwurzelung sensibel auslotet. Jedoch kann die Fülle an Nebencharakteren und komplexen Erzählebenen mitunter überwältigend wirken. Manche Handlungsstränge verlaufen im Sande und verlangen vom Leser Geduld.
Insgesamt fordert der Umfang des Romans Konzentration; eine gestraffte Version hätte den erzählerischen Kern unter Umständen noch klarer hervortreten lassen. Alles in allem ist „Die Schwestern“ ein herausragender Familienroman, der die großen und kleinen Fragen des Lebens mit literarischer Raffinesse und viel Empathie behandelt.
Jonas Hassen Khemiri: Die Schwestern.
übersetzt von Ursel Allenstein
Rowohlt, Juli 2025.
736 Seiten, gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.