Als Gabrielle Chanel 1883 im Armenhaus von Saumur geboren wird, tragen die Damen noch Korsett und können sich kaum alleine anziehen. Bei ihrem Tod 1971 in Paris ist in der Mode alles möglich. Als Coco Chanel – eine der berühmtesten Modeschöpferinnen – hat sie dazu beigetragen und das Leben unzähliger Frauen beeinflusst. „Unnötigen Prunk und sinnlosen Schnickschnack“ lehnt sie vehement ab. Frauen sollen sich frei bewegen können, unabhängig und selbstbewusst auftreten. Wie sie selbst.
Mit Anfang 20 trägt sie am liebsten Männerkleider. Bequem soll es sein, aber mit Stil. Denn „Mode ist vergänglich, Stil niemals“. Doch nichts wurde ihr in die Wiege gelegt. Mit elf Jahren, nach dem Tod ihrer Mutter, gab sie der Vater im nächstgelegenen Waisenhaus ab. Als Schausteller und Luftikus hatte er weder Zeit noch Lust, sich um seine fünf Kinder zu kümmern. Als junges Mädchen träumt Gabrielle davon, Sängerin zu werden. Doch sie muss sich eingestehen, dass ihr Talent nicht reicht. Zwei Männer werden zu ihren ersten Förderern: Étienne Balsan, ein reicher Offizier und Lebemann, der sie (als eine seiner Mätressen) für einige Jahre auf seinem Landsitz beherbergt, und Arthur „Boy“ Capel, die große Liebe ihres Lebens. Boy ist gebildet, attraktiv, verkehrt in besten Kreisen und lebt nicht nur von seinem Erbe, sondern verdient – was Gabrielle am meisten beeindruckt – sein eigenes Geld. Das möchte sie auch: unabhängig sein vom Wohlwollen anderer. Inspiriert von ihrer Tante Julia beginnt sie Hüte zu entwerfen. Bald eröffnet sie – unterstützt von Capel und Balsan – in Paris ihr erstes Atelier. Die Kundschaft beginnt zu strömen und am 1.1.1910 kann die Autodidaktin Chanel ihr erstes Personal einstellen. Ihre Ideen sprudeln: Bademode, das kleine Schwarze, Jäckchen, weite Hosen, Ringelpullover, praktisch, leger, aber trotzdem elegant, ungewöhnliche Stoffe wie Tweed oder Jersey. Und natürlich ihr Parfum: Chanel N°5. Sie sieht ihr Wirken als Beitrag zur Emanzipation: Wichtig ist nicht mehr, was Männern gefällt, sondern worin Frauen sich frei fühlen.
Eine zweite Boutique in Deauville, dem mondänen Badeort in der Normandie, wird zur Goldgrube. Der Aufstieg von Coco Chanel ist nicht aufzuhalten, die Firma wächst und gedeiht, selbst der erste Weltkrieg kann ihr nichts anhaben.
Natürlich gibt es auch Schattenseiten. Männer kommen und gehen. Oft behaupten sie Coco zu lieben, heiraten dann aber lieber standesgemäß eine andere. Denn auch wenn Coco Chanel ihre Kindheit und Jugend verschweigt und zur berühmten Persönlichkeit wird, ist sie in der feinen Gesellschaft nie ganz anerkannt. Zumindest nicht als angemessene Partie. Ihr zeitweise ausschweifendes Leben mit wechselnden (oft verheirateten) Partnern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, Alkohol, Nikotin und später auch anderen Drogen, ist manchen ein Dorn im Auge. Sie fühlt sich den Künstlern verbunden, unterstützt und fördert sie: Ballett, Musik, Dichtung, Malerei, das ist ihre Welt. Doch oft fühlt sie sich einsam und sehnt sich nach einer stabilen Beziehung.
Ihre Konstanten sind die Arbeit und die Kreativität. Hier lässt sie nicht nach, vergräbt sich bis in die Nacht darin, triezt ihre Models und ihre Näherinnen, immer eine qualmende Zigarette im Mundwinkel und ein paar Stecknadeln in der Hand. Denn Coco Chanel zeichnet keine Entwürfe. Ihre Ideen fließen direkt aus ihrem Kopf in den Stoff, den sie so lange an den Models drapiert, absteckt oder rafft, bis sie die richtige Gestalt angenommen haben. Als Vorgesetzte kann sie streng, sarkastisch und unbarmherzig sein. Nur das Ergebnis zählt.
Nadine Sieger, US-Korrespondentin der ELLE und ELLE Decoration, nähert sich in ihrer Romanbiografie dem Menschen Gabrielle Chanel an. Eingebettet in die Zeitgeschichte entwirft sie ein Bild dieser großartigen, vielschichtigen Frau, ihrer Erfolge, ihrer Niederlagen, ihrer Freuden und Leiden. „Diese Romanbiografie ist ein Versuch, ein bisschen näher heranzurücken an den Menschen, die vielen Lücken und Unklarheiten ihrer Biografie mitreißend mit Leben und Emotionen zu füllen und dabei so dicht an der Wirklichkeit zu bleiben wie möglich“, schreibt sie in ihrem Vorwort.
Dieser Versuch ist ihr gelungen. Trotz (oder wegen) ihres nicht einfachen Charakters, ist mir die Person Gabrielle Chanel auf den knapp 300 Seiten ans Herz gewachsen und hat gleichzeitig meine Bewunderung geweckt. Sie war offen und verbohrt, liebevoll und garstig, gesellig und einsam, unkonventionell und konservativ, stark und schwach. Einfach menschlich.
Nadine Sieger hat diese Persönlichkeit differenziert und gleichzeitig gefühlvoll dargestellt. „Mit einer Romanbiografie über Coco Chanel erfüllt sie sich einen Herzenswunsch“, ist im Klappentext zu lesen und das merkt man dem Buch auch an.
Egal, ob Sie sich für Mode interessieren oder nicht, wenn Sie auf sehr unterhaltsame Weise lesen wollen, wie eine außergewöhnliche Frau die Welt verändert hat, sollten Sie dieses Buch nicht verpassen.
Nadine Sieger: Coco Chanel: Paris der 1920er und das belebte Leben einer Modeikone.
Herder, September 2018.
272 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.
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