Der Hamburger Dom ist diesmal einer der Schauplätze des Romans. Miriam Georg erzählt uns – in den Rückblicken auf die Kindheit der Protagonistin Alice – einiges vom Leben der Schausteller, die ständig unterwegs waren, nirgends wirklich zu Hause und meistens in großer Armut lebten. Das ist das Leben von Alice‘ Eltern. Als Kind genoss Alice es, mit ihrem Bruder über den Jahrmarkt zu ziehen, die Attraktionen zu sehen und zu erleben, aber es ist keine Heimat. Alice soll es besser haben, die Eltern brauchen das Geld und geben Alice weg. Von da an lebt sie als Christina im sogenannten Pastorenhaus in der Nordmarsch, wo sie einerseits wie eine Magd behandelt, andererseits aber als die Nichte des Pastors ausgegeben wird. Ihre Aufgabe besteht vor allem in der Pflege der todkranken Ehefrau des Pastors, Zuneigung oder gar Liebe erfährt sie hier nicht. Alice ist noch ein Kind, unbedarft und den Menschen im Haus ausgeliefert. Es kommt wie es kommen muss, Alice wird schwanger, muss das Haus verlassen. Auch das Kind darf sie später nicht behalten.
Was genau mit dem Jungen passiert, wird allerdings nicht wirklich erklärt. Das alles wird in Rückblicken erzählt, die eigentliche Geschichte spielt 1912 / 1913, als Alice, Mutter einer 5-jährigen Tochter, gefangen ist in einer gewalttätigen Ehe. Henk, ihr Mann, war ihr wohl mal als der Retter aus der Not erschienen, aber ihre Ehe ist die Hölle. Alice hat Angst, dass Henk die Hand auch gegen Rosa erheben wird und entschließt sich, ihr Leben zu ändern. Sie will sich scheiden lassen. Als Frau aus dem armen Arbeiterviertel auf dem Uhlenhorst ist das schier unmöglich. Dennoch sucht Alice die Armensprechstunde eines angesehenen Hamburger Anwalts auf und schildert ihr Anliegen. John Reeven, erfolgreich, Sohn aus bestem Hamburger Bankiershaus, standesgemäß verlobt und aus einer völlig anderen Welt, sieht zwar kaum eine Chance, Alice‘ Scheidung durchzubringen und ihr das Sorgerecht für ihre Tochter zu erstreiten, aber er fühlt sich zu Alice hingezogen und verspricht, für sie zu tun, was er kann.
Kein leichtes Vorhaben! Alice ist bereit, für ihre Freiheit zu kämpfen – Überleben hat sie schließlich gelernt. In John findet sie einen Freund und Vertrauten, auch wenn er aus völlig anderen Kreisen stammt. Er bewundert Alice für ihren Mut und erkennt, dass auch er eben nicht so frei ist, wie er gerne möchte.
Miriam Georg packt diesen historischen Roman um eine willensstarke Frau, die für sich und ihre Rechte kämpft in eine Geschichte um die Arbeitsbedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aus heutiger Sicht undenkbar, menschenunwürdig und ohne jeden Begriff von Arbeitssicherheit. Parallel dazu beschreibt sie sehr realistisch und eindrücklich die Welt der Reichen, der gehobenen Schicht.
Alice steht exemplarisch für die Frauen, die in der damaligen Zeit regelrecht das Eigentum ihrer Männer waren, keine eigenen Entscheidungen treffen durften, sich auch nicht gegen Misshandlung wehren konnten, geschweige denn, ihre Ehe durch Scheidung zu beenden. Aber auch in der Figur von John sehen wir, dass es auch für die reichen Bürger nicht einfach war, Konventionen zu brechen und sich ein Leben einzurichten, das so von der Gesellschaft, zu der man gehörte, nicht vorgesehen war.
Knapp 600 Seiten Emotionen, aber auch historische Fakten. Lebendig und sehr anschaulich beschrieben, mitreißend und dennoch sachlich. Am Ende ein bisschen abrupt, – der Schluss offen, aber die Fortsetzung dieser Dilogie ist ja bereits angekündigt.
Miriam Georg: Im Nordwind.
Rowohlt, Juli 2024.
592 Seiten, Taschenbuch, 14,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.