Alby gerät bei der kleinsten Kleinigkeit in Wut, er prügelt und säuft sich durch Leben und ist alles in allem genau das, was man einen Proleten nennen würde.
Der amerikanische Autor Matt Sumell geht das Wagnis ein, eben jenen durchaus unsympathischer Zeitgenossen zum Ich-Erzähler seines Erstlings zu machen. Und das Wagnis geht auf. Der Text reißt einen mit seiner derben Sprache sofort mit Wucht in die Welt der Zukurzgekommenen, und man weiß an vielen Stellen nicht, ob man lachen oder weinen soll – zum Beispiel gleich auf der ersten Seite, wenn Alby zu einem wildfremden Mädchen sagt: „Wow, das ist ja übel.“ – „Was denn?“ – „Dein Gesicht.“ Drei Seiten weiter schlägt er seine ältere Schwester, weil sie seiner Meinung nach die Spülmaschine falsch eingeräumt hat.
Ein anderes Mal gerät ein Paar in einen unglaublichen Streit, weil die Frau nicht von dem Essen probieren will, das sich der Mann bestellt hat. Der Mann besteht aber hartnäckig darauf, dass sie das tut.
Das Ganze wirkt zunächst nur wie eine derbe, aber realitätsnahe Milieustudie nach dem Motto: „Seht her, so geht es bei Familie Proll zu“. Doch der Tenor des Romans ändert sich. Alby hat nicht nur ein großes Herz für Tiere wie einen Vogel, den er aufpäppelt, sondern mit zunehmender Seitenzahl auch für die Menschen, wobei er sich besonders um die Schwachen und Verletzlichen kümmert.
Unser Anti-Held entwickelt sich vom Ekelpaket erster Güte zwar nicht zu einem Muster-Schwiegersohn, aber immerhin doch zu jemandem mit durchaus sympathischen Zügen.
Ein besonderes Verhältnis hat er auch zu seinen Eltern. Als die Mutter früh stirbt, scheint er kaum eine Bindung an sie zu haben, später ist er derjenige, der am meisten um sie trauert und am schlechtesten mit ihrem Tod fertig wird. Ähnlich verhält es sich mit der Beziehung zu seinem Vater, einem Säufer, der Alby in seiner Kinderzeit auch drangsaliert hat.
Über „Wunde Punkte“ lacht man, man ärgert sich, und am Ende bleibt man sogar ein wenig nachdenklich zurück. Und man versteht, warum Alby so ist, wie er ist. Es ist ein Buch, das Emotionen freisetzt – und was kann man schließlich mehr von einem Buch erwarten?
Matt Sumell: Wunde Punkte.
S. Fischer, März 2016.
288 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.