Eine Kapitänin, ihr Schiff, die Mannschaft, das Meer und die Unberechenbarkeiten des Lebens. – Genügend Stoff, um daraus eine unterhaltsame Geschichte zu konzipieren, sollte man meinen. – Weit gefehlt! – Nicht nur die Handlung, sondern vor allem die facettenreiche Sprache ist es, durch die dieser wunderbare kleine Roman punktet.
Entgegen jeglicher Disziplin, an die sie sich seit jeher gehalten hat, entgegen aller Vorschriften und Vernunft, schaltet die Kapitänin auf der Überfahrt vom französischen St. Nazaire in Richtung der Antillen mitten auf dem Ozean Motor und Radar ihres Frachters aus, um ihrer Crew ein Bad im kalten Ozean zu ermöglichen. Ein Unterfangen, das so verrückt wie verwegen gleichzeitig ist.
Mit ihrem Eintauchen in das Wasser eint die Seeleute nun eine Anderswelt, in der sich jeder von ihnen erst einmal zurechtfinden muss. Von nun an sind sie samt der an Deck gebliebenen Kapitänin nur noch mit sich selbst beschäftigt. Zurückgeworfen in ihre bloßen Existenzen werden sie sich körperlich und seelisch ihres Daseins und dem Ausgeliefertsein an die Natur einerseits verzückt, andererseits schmerzlich bewusst. Allein auf sich gestellt kommt sich jeder der Männer auf eine der Wirklichkeit entrückte Art so nahe wie nie zuvor.
Alles geht gut, alle finden sich nach dem Bad wieder auf dem Schiff ein. Doch nach dem ungewöhnlichen Stopp verändert sich die Situation grundlegend. Nicht nur, dass sich technische Probleme einstellen und das Schiff nicht mehr die gewohnte Geschwindigkeit aufnehmen kann. – Auch die Anzahl der wieder an Bord befindlichen Mannschaft hat sich verändert: Anstatt wie zu Beginn der Reise zwanzig Besatzungsmitgliedern, befinden sich nun einundzwanzig Männer an Bord.
Die Verzauberung, die die Männer vor kurzem noch im Wasser verspürt hatten, weicht einer ängstlichen, misstrauischen Verwundbarkeit.
Der dazugekommene junge Matrose bleibt schemenhaft am Rand der Szenen und rätselhaft.
Reflexionen der Kapitänin an ihr Zuhause an Land, an Vergangenes, an ihren Vater, zu einem weiteren Kapitän und abstruse Geschichten, die sich die Matrosen untereinander erzählen, verweben sich mit der immer mysteriöser werdenden Seereise.
Mit seinen plastischen Szenen und der poetischen Satzgestaltung liest sich dieses Buch wunderbar subtil.
Die 1980 geborene Mariette Navarro ist Schriftstellerin und Dramaturgin. Über die See ist ihr erster Roman.
Mariette Navarro: Über die See.
Aus dem Französischen übersetzt von Sophie Beese.
Kunstmann, August 2022.
160 Seiten, gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.