Katrine Engberg: Glasflügel

… Kopenhagen hat eine Liebesbeziehung mit dem Meer. Steht man am Hafen, ist deutlich zu spüren, dass die Stadt am Wasser gebaut wurde … Das Wasser weicht die harten Kanten auf und bringt Leben mit sich, das Wasser spült den Dreck weg.“ (S. 316)

Es gibt selten einen perfekten Zeitpunkt, um eine Mordermittlung zu leiten: Jeppe hat aufgrund seiner Scheidung sein Haus verkauft und wohnt für die Übergangszeit in seinem ehemaligen Kinderzimmer. Seine Mutter freut sich sehr über den Einzug ihres Sohnes und belebt ihre Mutterrolle, die Jeppe wiederum nicht gebrauchen kann. Zur gleichen Zeit stillt seine Kollegin Annette ihre Tochter, die viel schreit und wenig schläft. In der geringen Freizeit leidet die stillgelegte Kommissarin unter Langeweile. Die Ermordung einer Bekannten verleitet sie zu privaten Nachforschungen.

In den nächsten zwei Tagen werden weitere Mordopfer im Wasser abgelegt und kurz darauf gefunden. Recht schnell finden Jeppe und seine Kollegen heraus, dass alle Getöteten in einer ehemaligen psychiatrischen Einrichtung für Jugendliche gearbeitet haben.

Doch die Suche nach Zeugen geht ungewöhnlich beschwerlich voran. Manche können sich nicht mehr genau erinnern, andere Zeugen wollen sich nicht erinnern, oder sind aufgrund ihrer psychischen Erkrankung wenig glaubwürdig. Darüber hinaus sind ehemalige Mitarbeiter und Patienten nicht erreichbar. Jeppe sieht eine Fülle von Informationen und Hindernissen, die auf viele Verdächtige zeigen.

Die Autorin, Tänzerin, Choreographin und Regisseurin Katrine Engberg aus Kopenhagen hatte bereits mit den Thrillern Krokodilwächter und Blutmond internationalen Erfolg. Ihren neuen Kopenhagen-Thriller, übersetzt von Ulrich Sonnenberg, hat sie den Menschen gewidmet, die sich „… unserer Kranken annehmen, vor allem der Kinder und Jugendlichen.“ (S. 425) Sie zeigt an konkreten Beispielen, wie Jugendliche ihre Freiheit verlieren, abgestempelt, verwahrt, erneut Opfer werden, besonders in den Fällen, wenn die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte und Ärzte unzureichend sind. In ihrem Buch baut sie verschiedene Erzählperspektiven auf, die persönliche Erlebnisse mit Straftaten beschreiben, die wiederum lose mit den grausamen Serienmorden verknüpft sind. Unter anderem begleitet der Leser eine Krankenschwester, die sich gemobbt fühlt; einen Psychiater, für den die Karriere alles bedeutet; einen Pfleger, der sich selbst mit Medikamenten versorgt oder auch eine Spätgebärende, die ihre Polizeiarbeit vermisst und Gefahren ignoriert. Die eigenen Unzulänglichkeiten, gekoppelt mit den Herausforderungen des Alltags, erschweren nicht nur Jeppes Ermittlungsarbeit. Nichts scheint eindeutig in die Richtung des Serienmörders zu führen. Erst wenn ihm Annette und Jeppe gegenüberstehen und sie sich in höchster Lebensgefahr befinden, erkennt auch der Leser die Zusammenhänge. Warum der Überlebenstrieb der Ermittler so defensiv ausfällt, ist dagegen nicht so ganz nachvollziehbar, auch wenn die Spannung dadurch nach oben schnellt.

Katrine Engberg: Glasflügel.
Diogenes, Februar 2020.
432 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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