Ein Mann wartet in seinem Wagen vor einer roten Ampel. Die Ampel schaltet auf grün, doch der Mann fährt nicht los. Er hat ohne Vorwarnung sein Augenlicht verloren und sieht alles weiß, als ob er „in einem Nebel gefangen oder in einen milchigen See gefallen wäre“. Ein barmherziger Samariter bietet an, ihn nach Hause zu fahren und stiehlt ihm danach das Auto. Seine Frau bringt ihn mit dem Taxi zur Untersuchung in eine nahegelegene Augenarztpraxis. Innerhalb eines Tages erblinden der hilfreiche Autofahrer, der Taxifahrer, der Augenarzt und alle Patienten, die sich in dessen Wartezimmer aufgehalten haben.
Die Blindheit greift um sich wie eine Epidemie und die Regierung gerät in Panik. Die Erkrankten werden in eine leerstehende Nervenheilanstalt transportiert und dort unter Quarantäne gestellt. Soldaten, die den Befehl haben, jeden zu erschießen, der zu fliehen versucht, bewachen die Blinden. Die Frau des Augenarztes behält als Einzige ihr Augenlicht. Sie verbirgt dies jedoch und begleitet ihren blinden Mann in die Nervenheilanstalt.
Die Zahl der Opfer wächst rasant. Das Asyl ist bald überfüllt und die Versorgung der internierten Blinden bricht zusammen. Toiletten verstopfen und laufen über, die Lebensmittellieferungen gelangen nur noch sporadisch in die Klinik, es gibt keine medizinische Versorgung für die Kranken und keine Möglichkeit, die Toten richtig zu begraben. Zwangsläufig beginnen die gesellschaftlichen Konventionen ebenfalls zu zerfallen.
Eine Gruppe der blinden Insassen übernimmt die Kontrolle über die schwindende Lebensmittelversorgung und beutet die Bewohner der anderen Schlafsäle aus. Um Nahrungsmittel zu erhalten, müssen die anderen Bewohner die Wertgegenstände, die sich bei sich führen, an die Kontrolleure abgeben. Nachdem alle Wertgegenstände gegen Nahrungsmittel getauscht sind, verlangen die Ausbeuter, dass die Frauen sich zu sexuellen Dienstleistungen zur Verfügung stellen.
José Saramogo wurde am 16. November 1922 als Sohn eines Landarbeiters geboren und ist einer der bedeutendsten Autoren Portugals. Sein Roman „Hoffnung im Alentejo“ wurde 1981 mit dem Preis der Stadt Lissabon ausgezeichnet. 1995 erschien sein bekanntester Roman „Die Stadt der Blinden“ und Saramago erhielt den Camoes-Preis, die höchste Auszeichnung für Literatur in portugiesischer Sprache. 1998 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt.
„Die Stadt der Blinden“ liefert eine erschreckend detaillierte Beschreibung des Zusammenbruchs der menschlichen Gesellschaft nach einer Katastrophe. Saramago erspart seinen Figuren und dem Leser nichts. Seine Beschreibungen der unhaltbaren hygienischen Zustände in der ehemaligen Nervenheilanstalt, des Streits um die besten Schlafplätze sowie die begrenzten Nahrungsmittel und der rohen Brutalitäten wie die Massenvergewaltigung der blinden Frauen sind in ihrer Drastik bisweilen kaum zu ertragen.
Und doch ist Saramago ein unbedingter Moralist, der daran glaubt, dass es grundlegende menschliche Werte und Qualitäten gibt, die sich noch unter extremen Bedingungen bewähren. Die Frau des Arztes, die ihren Mann aus Liebe in die Quarantäne begleitet, ist so eine Lichtgestalt. Sie leiht dem Leser ihre Augen und führt ihn durch diese Hölle aus unfassbarem Schmutz und unvorstellbarer Gewaltakte, in der trotz der unerträglichen Zustände einzelne Menschen dazu fähig sind, erstaunliche Akte der Nächstenliebe zu vollbringen. Die Frau des Arztes führt die Blinden ihres Schlafsaals zur Toilette, hilft ihnen beim Ankleiden, säubert sie von Schmutz und Kot, ohne ein einziges Mal zu klagen oder ungeduldig zu werden mit diesen hilflosen Opfern der Krankheit.
Saramago macht es dem Leser nicht leicht, in seinen Roman hineinzufinden. „Die Stadt der Blinden“ beginnt sperrig. Schachtelsätze ziehen sich über zwei oder drei Seiten, der Autor scheint Absätze und Satzzeichen nicht sonderlich zu schätzen und die eingeschobenen Dialoge sind nur schwer von der Handlung zu trennen und als solche erkennbar. Die Figuren sind keine Personen, mit denen sich der Leser identifizieren kann. Sie stellen Typen dar, reduziert auf eine einzige Eigenschaft: der Arzt, die Frau des Arztes, der erste Blinde, die Frau des ersten Blinden, die junge Frau mit der Sonnenbrille, der schielende Junge, der Alte mit der Augenklappe oder die Blinde, die nicht schläft.
Doch das ebenso verstörende wie faszinierende Szenario und Saramagos knappe und präzise Sprache lassen den Leser die stilistischen Zumutungen schnell vergessen. „Die Stadt der Blinden“ ist ein beängstigender und sehr eindringlicher Roman, dessen Wirkung auch nicht durch das reichlich abrupte Ende, das kaum Erklärungen liefert, geschmälert werden kann.
José Saramago: Die Stadt der Blinden.
rororo, April 1999.
400 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Martina Sprenger.