Jeremias Gotthelf: Die Käserei in der Vehfreude

In dem beschaulichen Dorf Vehfreude wollen die Männer Veränderungen einführen. Statt dem Dekret zu folgen, bauen sie keine größere Schule, sondern ihr eigenes Käsehaus. Es wird mit viel Aufwand ausgerüstet und ein Senn eingestellt, der den Käse fachmännisch herstellen soll. Bildung ist für sie nicht so wichtig, zumal viele kaum lesen, schreiben und rechnen können. Sie sind Bauern und kennen sich mit Kühen aus. Seit Generationen leben sie von der Milchwirtschaft. Und was sie nicht verkaufen können, gilt als verloren.

Inzwischen wissen auch die Vehfreudener Männer, guten Käse kann man nicht nur aus Almmilch herstellen. Früher galt ihre Milch als minderwertig, weil ihre Kühe nicht auf der Alm grasen. Doch dies hat sich geändert. Denn die Nachfrage nach Käse ist gewachsen.

Die Aussicht auf hohe Gewinne berauscht die Bauern. Einige schaffen sich noch schnell überteuerte schwangere Kühe an. Um noch mehr Milch für die Käseproduktion abgeben zu können, nehmen die Bauern sogar ihren Frauen die Milch für den Eigenverbrauch und Vertrieb weg. Und dann übernimmt die Gier die Regie. Die Milch wird verwässert, sodass die Qualität des Käses leidet. Betrug, Intrigen und gegenseitige, zum Teil handfeste Beschuldigungen verändern das Miteinander.

Jeremias Gotthelf (1797 – 1854) lebte als Pfarrer im Emmentaler Lützeflüh. Mit vierzig Jahren begann er Romane und Geschichten zu schreiben. Sein vorletzter Roman Die Käserei in der Vehfreude erschien erstmalig 1850. Darin zeichnet er ein Schweizer Sittengemälde, in dem die gnadenlose soziale Hackordnung sichtbar wird. In vielen eingebetteten Geschichten beschreibt er mit Humor und Sachkenntnis, dass die Dummheit der Männer und die Bösartigkeit der Frauen keine Grenzen kennen.

Die ersten unbeholfenen Schritte der Bauern in die Vermarktung ihres Käses verlaufen anders, als sich viele schön gerechnet haben. Nachdem sie einigen Gaunern in die Falle getappt sind, überlassen sie auch noch einem routinierten Gauner aus ihren Reihen den Vertrieb der Restbestände und deren Abrechnung. Denn dieser Herr kann schön reden, ist ein sogenannter Halbherr, ein ehemaliger Beamter, der mit dem Schreiben und Rechnen vertraut ist. Auch seine guten „Beziehungen“ in der Geschäftswelt werden positiv bewertet.

Jeremias Gotthelf führt seine Leserschaft durch die Berner Landschaft, die von der Milch- und Viehwirtschaft leidlich lebt. Eindrucksvoll beschreibt er, wie Menschen mit wenig Bildung versuchen, sich auf veränderte Lebensbedingungen einzustellen und dabei ihr Lehrgeld zahlen. Seine Charaktere stehen beispielhaft für Menschen aus dem Alltag. Auch ihre Motive wie Neid, Missgunst, Herrschsucht sind aus dem Leben gegriffen und nachvollziehbar. Auf diese Weise schenkt der Autor eine Vielzahl von Perspektiven und Lesarten, die auch heute noch aktuell sind.

Der Herausgeber Philipp Theisohn hat am Ende des Buches Zora del Buono das Nachwort überlassen, die ihre Reise ins heutige Emmental wunderschön beschreibt, sodass man sie als Fortsetzung des Romans in die heutige Zeit hinein betrachten darf. Wer hinschaut, findet in der Landschaft die Spuren der Vergangenheit und im Alltag die Wiederholung vergangener Fehleinschätzungen.

Die Lesbarkeit des Textes ist anfangs für Nichtschweizer Arbeit und benötigt einen Gewöhnungsprozess. Das Nachschlagen im Glossar (zum Beispiel das Wort Anken für Butter oder Ätt, Ätti fürt Vater) erlaubt keine schnelle Lektüre. Auch die Wiedergabe der Mundart in den Dialogen fordert heraus, bis man auf einmal in der Erzählsprache drin ist und nicht mehr so schnell heraus möchte.

Jeremias Gotthelfs Roman schenkt einen fundierten Blick auf die Anfänge des Kapitalismus, die unterhaltsame menschliche Natur und den Käse, seinen Hauptakteur, dessen Qualität heute größtenteils traurig stimmt. Auf die Frage, was einen guten Emmentaler ausmacht, lernt man: „Salz in den Löchern und anderthalb Jahre Lagerung.“ (S. 624)

Jeremias Gotthelf: Die Käserei in der Vehfreude
Herausgegeben von Philipp Theisohn.
Mit einem Nachwort von Zora del Buono
Diogenes, November 2024
672 Seiten, Hardcover Leinen, 35,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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