Der große Meaulnes ist der geborene Anführer. Als er im Alter von siebzehn Jahren in die Schule von François Vater kommt, wird in der Dorfschule für einige Monate alles anders. François findet in dem gleichaltrigen, großen Jungen nicht nur den schon lange vermissten Freund, sondern auch das Ende seiner Isolation zu Gleichaltrigen. Hatten ihm die Eltern bisher den Umgang mit den Dorfkindern verboten, ist nun Augustin Meaulnes Gesellschaft erlaubt. Aber auch die Dorfjugend sieht in dem großwüchsigen, starken Fremden ein noch nie dagewesenes Vorbild für neue Abenteuerspiele. Mitten im eiskalten Dezember türmt Meaulnes mit einem Pferdewagen, um als erster François Großeltern vom Bahnhof abzuholen. Doch er verirrt sich, verliert Pferd und Wagen und kommt schließlich nach drei Tagen völlig verändert zurück. So nach und nach erfährt François die Geschichte einer verzweifelten Liebe, die ein glückliches Ende nehmen könnte, wenn nicht Schuldgefühle und Verantwortung wären. Der Weg in die Welt der Erwachsenen entwickelt sich für die jungen Männer zu einem emotionalen Belastungstest, der auch die Weichen für ihre Zukunft stellt.
Der Schriftsteller Henri Alain-Fournier (1886 – 1914) hat mit seinem einzigen Roman ein wegweisendes Beispiel für moderne Erzählliteratur geschaffen. Abenteuer suchende Jugendliche spielen ohne störenden Einfluss von Erwachsenen ihre Spiele, bei denen auch schon einmal bei Prügeleien Blut fließt. Das Besondere an seinem Roman ist die besondere Komposition von Natur- und Ortsbeschreibungen, um alle Beteiligten im Zusammenspiel von Umständen und Verhalten zu charakterisieren. Werden in den meisten Romanen Gegenspieler aufgebaut, um das Gute im Helden zu betonen, vereint Alain-Fournier beide Seiten in einer Person. An den Beispielen von Meaulnes oder dem Bruder seiner großen Liebe, die für ihre Träume und Sehnsüchte kämpfen und sich zugleich von der Last der eigenen Unzulänglichkeit lähmen lassen, wird deutlich, dass jeder für sich selbst sein ärgster Feind und härtester Kritiker sein kann.
In drei Teilen wird eine ganz besondere Liebesgeschichte mit teilweise autobiographischen Bezügen entwickelt, die für Meaulnes und den Leser in keiner Weise abzusehen ist.
Henri Alain-Fournier starb am 22. September im Wald bei Saint-Rémy, als noch viele junge Männer dachten, der Erste Weltkrieg sei ein kurzes Abenteuer.
Henri Alain-Fournier: Der große Meaulnes (1913).
dtv, Juni 2013.
256 Seiten, Taschenbuch, 9,90 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.