Ein Mann namens Roth nimmt sich eine dreimonatige Auszeit vom Job und mietet sich in einer Ferienwohnung mit Blick aufs Meer in Niendorf an der Ostsee ein. Dort will er in aller Ruhe einen großen Roman über seine Familie schreiben. Jetzt muss er nur noch die 44 Tonbänder mit den Interviews mit seinen Familienangehörigen durchhören – und los geht‘s.
Natürlich kommt alles ganz anders. Erstens hadert unser Möchtegern-Autor mit seinem Stoff, zweitens wird er mehr und mehr abgelenkt – zum Beispiel von einem grob gestrickten Proleten namens Breda und seiner dicklichen Freundin Simone, die Roth immer öfter zum abendlichen Saufen animieren – die aber auch mehr und mehr zu seinem einzigen sozialen Kontakt zur Außenwelt werden.
Roth sackt immer weiter ab. Er hat mehr oder weniger einen Dauerkater, steigt unglücklich einer Kellnerin nach, lässt sich von einem Seniorenpaar durchfüttern und hat bei einem Ausflug nach Hause im Auto ein unschönes Erlebnis. Wir beobachten einen Helden auf dem Weg in seinen ganz persönlichen Abgrund – und das alles macht enorm viel Spaß. Herrlich, wie Strunk seinen Protagonisten über seine Beobachtungen vor Ort herziehen lässt: die Invasion der radelnden Rentner, das schlechte gastronomische Angebot oder die Säufer-Klientel in einer heruntergekommenen Kneipe, in die es Roth immer häufiger verschlägt.
Heinz Strunk, der unter anderem durch Werke wie „Jürgen“ oder „Der Goldene Handschuh“ (über den Frauenmörder Fritz Honka) bekannt geworden ist, betreibt in „Ein Sommer in Niendorf“ erneut Milieustudien, die von einer genauen Beobachtungsgabe zeugen – wobei ihn offenbar die sogenannten „kleinen Leute“ am meisten interessieren.
Für uns Leser hat das die angenehme Folge, dass wir sein Buch mit einem Dauergrinsen im Gesicht konsumieren.
Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf.
Rowohlt, Juni 2022.
240 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.