Han Kang: Weiß

Weiß wurde zu ihrer Projektionsfläche. Das reine Weiß, zart und zerbrechlich steht für ein Ereignis aus ihrer Vergangenheit und für Gegenstände, die mit der Farbe assoziiert werden können. Die Ich-Erzählerin leidet unter einer starken Migräne. Schon lange sucht sie nach erlösenden Gedanken und flieht in ein anderes Land, um in der Zurückgezogenheit klärende Einsichten unter anderem im Betrachten des Schnees zu finden.

„… Sie sitzt an ihrem Schreibtisch wie jemand, dem noch nie Leid geschehen ist. Nicht wie jemand, der gerade geweint hat oder es noch tun wird.“ (S. 105)

Der Trost der Vergänglichkeit tröstet sie nicht, denn …

„… Ich habe es noch nicht geschafft, mit mir ins Reine zu kommen.“ (S. 114)

Die Künstlerin und Autorin Han Kang gilt in Korea als wichtige Stimme. Mit ihrer Lyrik wurde sie 1993 bekannt, danach wechselte sie zur Prosa. In ihrem aktuellen Buch vereint sie Textminiaturen mit Elementen der Lyrik, die von Ki-Hyang Lee übersetzt wurden. Alle Kapitel zusammen könnte man mit einem Windspiel vergleichen, dass, mal hin und hergerückt, schließlich ein Gesamtbild kreiert.

Die Künstlerin zeigt darüber hinaus in ihrer Ausstellung White Thread eine weitere Form der Bearbeitung des Themas Weiß. Einen Teil ihrer ausdrucksstarken Fotos hat sie in ihr schmales Buch integriert.

In ihrem Buch durchspielt Han Kang die Facetten der Farbe Weiß, um sich dem Kern ihres Unglücks anzunähern. Die besonderen Umstände für ihr Leben und das ihres Bruders kann man auch als Glück im Unglück betrachten. Beides ist nicht voneinander trennbar. Die Schuld an einer nicht selbst verursachten Schuld zu tragen, umschreibt das Dilemma der Ich-Erzählerin. Wie lebt man mit so einer Last? Zartfühlend und nachvollziehbar darf man Han Kang auf einer Lesereise begleiten. Die Mentalität Asiens erscheint näher, als man glauben mag.

Han Kang: Weiß.
Aufbau Verlag, August 2020.
151 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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