Heinrich Roth ist alt geworden und krank. Unter anderem spürt er nicht mehr den Boden unter seinen Füßen. Früher rannte er mit seiner jüngsten Tochter Franziska durch die Wälder. Und heute ist jeder Schritt ein Kraftakt. Auch sonst hat er buchstäblich die Bodenhaftung verloren. Während sein Kopf an die eigene Unabhängigkeit glauben will, spricht sein greiser Körper eine andere Sprache.
„[…] ICH KOMME SCHON KLAR. Lass mich. Lass mich! So, wie ihr Vater jetzt redet, kann sie sich selbst hören. Ihre kleine Hand, die den Breilöffel wegschlägt, weil sie allein essen will, ohne Hilfe.“ (S. 45)
Für drei Wochen soll Franziska kommen und ihre Schwester Monika vertreten. Zu ihren Aufgaben gehören die Ordnung des Haushalts und Umbaumaßnahmen, die ihr Vater nicht will. Auch Franziska will er weder sehen noch hören. Als sie mit ihrem Rucksack nach über zwei Jahren Schweigen vor ihm steht, beginnt für beide eine schwierige Annäherung, die durch alte Familiengeister gestört wird. „Was hätte gesagt werden müssen, aber nicht gesagt wurde […]“ (S. 285), muss Franziska jetzt aussprechen. Diese namenlose Welt, die ihre Eltern und Monika verleugnen und Franziska trotzdem spürt, hat sie zum ewigen Weglaufen verleitet. Doch jetzt funktioniert dieser Schutzmechanismus nicht mehr.
Gisa Klönnes Kriminalromane erreichten bisher eine Gesamtauflage von einer halben Million. Sie erhielt für ihre Bücher Preise und Auszeichnungen. Darüber hinaus schreibt sie Familienromane mit so viel Herzblut, dass sie die Leserin, den Leser auf eine berührende Reise mitnimmt, die eine Brücke zwischen zwei Generationen baut.
Heinrich Roth ist ein Vertreter der Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Die Traumata der Zerstörung haben in ihm den Wunsch geweckt, dass es seine Kinder besser haben sollen. Er verkörpert ein Erziehungssystem der Strenge und Lebensweisheiten, die seine Töchter nur bedingt nachvollziehen. Franziska steht für die Generation des Aufbruchs, die im Sog der Studentenrevolution Freiheit, Umweltschutz und Gleichberechtigung einfordert.
In einer sensiblen, klaren Sprache lässt die Autorin Heinrichs und Franziskas Perspektiven auf ihr gelebtes Leben freien Lauf. Sie erklären, ohne zu erklären, indem sie sich vorsichtig ihren Erlebnissen und Erkenntnissen stellen. Und weil beide genau hinsehen, um ihren inneren Frieden zu finden, verströmt Gisa Klönnes Roman so viel Wahrhaftigkeit, wie man sie nicht so oft findet. Für die Leserschaft aus den 1960-iger Jahrgängen ist dieser wunderbare Roman eine geballte Ladung Erinnerung und Aha-Effekte. Er schenkt zugleich aktuelle Bezüge. Denn gerade vererbt der Generationswechsel so manche Familiengeheimnisse und Perspektivwechsel. Bei der Lektüre der spannend erzählten Geschichte entstehen so viele Gefühle und Gedanken, dass man den Roman nicht mehr aus der Hand leben möchte.
Gisa Klönne: Für diesen Sommer.
Kindler, März 2022.
448 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.