Die Anthropologin Mathurine arbeitet in Französisch-Guayana bei der Kinder- und Jugendwohlfahrt. Mehrere Mitarbeiterinnen versuchen dort nach Kräften gegen Kindesmisshandlungen oder Missbrauch vorzugehen. Zu dem von ihnen betreuten Gebiet gehört auch der Slum Bois Sec, unmittelbar angrenzend an den Dschungel. Ein anonymer Anrufer meldet eines Tages, dass es da ein Kind gebe, mit dem sei etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Mathurine muss dem Fall nachgehen und entdeckt, dass schon vor einiger Zeit jemand von der Kinder- und Jugendwohlfahrt bei der angegebenen Adresse war, der Fall aber als erledigt zu den Akten gelegt wurde. Sie schaut trotzdem dort vorbei und lernt Yolanda Massily und ihren Sohn Darwyne kennen. Darwyne hat eine Fehlstellung der Füße, liebt Pflanzen und Tiere über alles und seine Mutter abgöttisch.
Sozial scheint alles in Ordnung zu sein. Yolanda nimmt keine Drogen, verdient ihr Geld als Händlerin, macht einen sauberen, gepflegten, bemühten Eindruck. Lediglich ihr Männerkonsum weicht ein wenig vom Standard ab. Sie wohnt mit Darwyns Stiefvater Nummer acht zusammen. Alle anderen haben sie irgendwann verlassen und sind verschwunden, obwohl Yolanda sehr schön ist. Darwyne verhält sich Mathurine gegenüber nicht sehr kooperativ und sie vermutet ein Geheimnis hinter seiner Verschlossenheit, dem sie auf den Grund gehen möchte. Irgendetwas ist da faul. Deswegen nimmt sie Darwyne und weitere Kinder aus problematischen Verhältnissen gemeinsam mit mehreren Betreuerinnen mit zu einem Wochenende im Dschungel. Dort macht sie eine erstaunliche Entdeckung.
Darwyne wächst über sich hinaus, verschmilzt gleichsam mit seiner Umgebung, humpelt auch nicht mehr, weil er seine Füße nicht mehr in Schuhe zwängen muss. Er hat eine ungeheuerliche Sensibilität für den Wald. Mit selbstgeschnitzten Knochenflöten lockt er Tiere an, die sich ihm gegenüber völlig friedlich verhalten. Zurück in der Zivilisation ist er wieder der Alte. Verschlossen, verstockt, mit zehn Jahren des Lesens und Schreibens kaum mächtig. Vielen ist er unheimlich. Mathurine aber hat gesehen, welche Gabe in ihm steckt und sie will ihm helfen. Die Ereignisse spitzen sich allerdings zu. Das Kind hat eine dämonische Seite…
Fazit: Colin Niel verpasst seiner Geschichte um Darwyne einen dunklen Sog, der einen mitreißt. Nicht umsonst hat er dafür gleich vier Preise bekommen. Ich habe selten ein Buch mit einer derartigen Suggestivkraft gelesen, wobei man einmal aushalten muss, was der Autor einem serviert. Es geht um abgöttische Liebe, um Brutalität, um Gewalt, um Grausamkeit an Körper und Seele. Kein Buch, das man nicht vor dem Einschlafen lesen sollte, aber eines, an das man noch lange denken muss, nachdem man es weggelegt hat.
Colin Niel: Darwyne.
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Suhrkamp, Juni 2024.
302 Seiten, Taschenbuch, 18,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Karina Luger.