Clay Carmichael: Ich bin kein anderer

Carmichael_24743_MR1.inddDer Satz: „Wenn sich eine Türe schließt, öffnet sich eine andere.“ kann vieles sein, nicht nur ein Trost. Für den siebzehnjährigen „Bruder“, der eigentlich Billy heißt, ist die geschlossene Tür, der Tod seiner Großmutter Mem. Jetzt steht er alleine da. Mittellos. Ohne Familie. Zumindest dachte er dies, bis er die Zeitung auf Mems Bett findet. Darin abgebildet ist sein Gesicht mit einem anderen Namen. Gabriel, der Sohn des gerade im Wahlkampf befindlichen Senators. Kurz vor dem Aufbruch zu dem Wohnsitz des Senators steht Jack, der kleine Bruder seines besten Freundes Cole vor ihm, der mal wieder einen Babysitter braucht. Nun bleibt „Bruder“ nichts anderes übrig, als den Kleinen mit auf seine Reise zu nehmen. Ziel ist ausgerechnet der Ort, von dem Mem einst geflohen war und den sie nie mehr in ihrem Leben betreten wollte. Unterwegs hat sein alter Wagen einen Motorschaden. Weitere Schwierigkeiten folgen.
„… Nachdem der Senator gegangen war, blieb Bruder einige Minuten mit gesenktem Kopf sitzen. Es war eine Sache, Mem über das herrische Wesen des Senators reden zu hören, ihn in der Zeitung oder im Fernsehen zu sehen – aber etwas völlig anderes, ihn aus nächster Nähe ertragen zu müssen. …“ (S. 189)
Clay Carmichael ist eine erfolgreiche Autorin. Dies zu recht, denn sie beherrscht ihr Handwerk. Mit dem abgegriffenen Motiv „Reiche Familiendynastie und ihre dunklen Geheimnisse“ geht sie um, als sei es ein unverbrauchtes Thema. Im Fokus stehen ein sympathischer Jugendlicher und seine Freunde, die zwar arm aber auch frei von Konventionen sind. Was zählt im Leben mehr? Mächtig und abhängig von der Presse zu sein oder inmitten der unpersönlichen Menge der Öffentlichkeit zu stehen?
Zunächst erfährt „Bruder“, was es bedeutet, mit wenigen finanziellen Mitteln die Verantwortung für einen kleinen Jungen zu tragen. Und in der Nähe der Insel des Senators stößt er auf die massive Ablehnung aufgebrachter Bürger, weil ihn jeder für Gabriel hält. Auf der Insel blickt er schließlich hinter die Kulissen der Reichen und Mächtigen. Dabei gewinnt er Erkenntnisse über seine Familie, die ihm auf seinem weiteren Lebensweg helfen.
Geschickt bringt die Autorin „Bruder“ zu einem neutralen Ausgangspunkt und lässt das eigentliche Ende offen. Ihr untypischer Held, ein nachdenklicher, höflicher und zugleich sanfter Mensch, bietet ein breites Spektrum für Identifikationen an. Zum Glück bleiben in dem emotionalen und kurzweiligen Roman noch einige Fragen unbeantwortet.
Wie im Leben hat die Wahrheit auch ihre dunklen Seiten.

Clay Carmichael: Ich bin kein anderer.
Hanser, März 2015
320 Seiten, Taschenbuch, 15,90 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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