Cosima Liefenstein wird Mitte der 1930er Jahre in eine ebenso wohlhabende wie einflussreiche Industriellenfamilie geboren. Ihre Kindheit ist zwar einigermaßen sorgenfrei und unbeschwert, aber auch geprägt von der Herrschaft der Nationalsozialisten, dem 2. Weltkrieg und den politischen Veränderungen. Ihr Vater, Edmund, der jüngste von drei Brüdern, beugt sich als einziger nur widerstrebend der Autorität seines Vaters, der als Unternehmer schon früh mit den Nationalsozialisten zusammenarbeitet und von ihnen profitiert. Die Batteriewerke LIefenstein florieren und expandieren, die Familie lebt im Wohlstand. Theodor und Albert, Edmunds Brüder sind beide in die Firmenleitung eingebunden, Edmund nicht. Als einziger der Brüder wird er an die Front eingezogen, sein Vater hat es bewusst nicht verhindert. Er sieht in Edmund einen Schwächling, einen Feingeist, der im Krieg „endlich ein Mann werden“ soll. Die gesamte Familie lebt in Berlin in einer vornehmen Villa zusammen, später übersiedelt zunächst Albert mit seiner Frau nach Bonn, wo die Firma ein neues Werk gründet, das Albert leitet. Cosima wird betreut von einem Kindermädchen, zu dem sie eine enge, vertrauensvolle Bindung aufbaut und das später in ihrem Leben auch weiter eine Rolle spielen wird.
Cosimas Vater kommt mit einer Kriegsverletzung nach Hause zurück, inzwischen nach Bonn, wohin die Familie den Wohnsitz verlegt hat, nachdem die Lage in Berlin zu gefährlich geworden war. Edmund ist eher ein Feingeist, er interessiert sich nicht wirklich für die mysteriösen Geschäfte, die sein Vater mit ranghohen Nazis macht. Im Gegensatz zu seinen Brüdern, wagt er es, laut Kritik an der Politik zu üben und versucht, einen Freund zu schützen, der Jude ist. Viel zu früh kommt Edmund bei einem tragischen Zwischenfall ums Leben. Seine Frau und seine Tochter leben weiterhin in der Villa, wo Cosima von ihrem Onkel Theodor wie eine Tochter angenommen wird. Als junge Frau engagiert sich Cosima für bedürftige Frauen und gründet eine Stiftung, die sie nach ihrem Großvater, Wilhelm Liefenstein, benennt. Sie hat ihn immer verehrt. Doch dann will es ein Zufall, dass Cosima anfängt, in der Vergangenheit der Familie zu graben und Fragen zu stellen, die ihr niemand beantworten will. Im Gegenteil, sie wird bedroht und muss um ihr Leben fürchten. Doch Cosima gibt nicht auf.
Gemeinsam mit Leo, einem Journalisten, den sie kennengelernt hat, weil er eine Story über ihre Familie schreiben wollte, versucht sie, mehr über die Zeit vor und während des Krieges und die Rolle ihrer Familie in dieser Zeit herauszufinden. Cosima und Leo erfahren vom Schicksal von David, Edmunds Freund, von Zwangsarbeitern, die in den Liefenstein-Werken schuften mussten und wie sie behandelt wurden, von einem Prozess gegen Cosimas Onkel, der aber im Sande verlaufen ist, weil sie immer noch gute Beziehungen zu ehemals hochgestellten und noch immer einflussreichen Persönlichkeiten haben. Ihre Rolle in der Nazi-Zeit wurde mit „wir konnten ja nicht anders“, als Mitläufertum abgetan – eine aktive Unterstützung wurde ihnen nicht nachgewiesen.
Ein spannend geschriebener, historisch absolut interessanter Roman über ein dunkles Kapitel der deutschen Wirtschaft. Erschreckend plastische Protagonisten, Charaktere, die man sofort vor Augen hat, Ereignisse, die absolut glaubhaft und authentisch an der damaligen Realität orientiert sind. Erzählt wird in verschiedenen Zeitebenen, einmal in den 30er-Jahren – unter anderem aus Sicht des Kindermädchens Elisa, das später für Cosima eine wertvolle Hilfe ist bei der Aufarbeitung ihrer Nachforschungen und das viele Puzzleteile beisteuern kann, die das Bild und die Rolle der Familie vervollständigen. Zum anderen aus Cosimas Perspektive als junge Frau in den 1950ern, die in Rückblicken versucht, die Geschichte zu verstehen. Auch wenn die Familie um Cosima Liefenstein rein fiktiv ist, es könnte sie genau so gegeben haben. Eine Geschichte von Einfluss und Macht, politischem Druck und Angst, Bedrohung und Schuld, aber auch dem Mut, das alles ans Licht zu bringen und sich der Vergangenheit zu stellen.
Claire Winter: Die Erbin
Heyne, April 2025
592 Seiten, Hardcover, 22,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.