Christian Berkel: Sputnik

Nach »Der Apfelbaum« und »Ada« hat Christian Berkel nun den dritten Teil seiner autofiktionalen Familiengeschichte vorgelegt. Ging es in den ersten beiden Romanen um seine Eltern und seine (erfundene) Schwester, dreht sich diesmal alles um ihn selbst. Und das buchstäblich von Anfang an.

Im ersten Kapitel befinden wir uns im Uterus seiner Mutter und tauchen ein in seine Gedanken- und Gefühlswelt von der Befruchtung bis zur Geburt. Auf die Idee muss man erst einmal kommen – und dann sprachlich meistern. Was Berkel beeindruckend gelingt. Das Kapitel ist aber nicht nur ein literarisches Experiment; es hat auch eine strukturelle Funktion, greift der Autor doch kurz vor dem Ende noch einmal im Kontext seiner Ausbildung als Schauspieler darauf zurück und formt so den Rahmen für den eigentlichen Inhalt der Erzählung: die Geburtswehen eines Schauspielers.

Kurz bevor er das Licht der Welt erblickt, schießt die Sowjetunion zum Entsetzen der westlichen Welt den ersten Satelliten ins All, und auch Berkels Vater erlebt einen Schock, da sein Sohn um ein Haar vertauscht worden wäre. So erhält das Kind bereits am ersten Tag seinen Spitznamen.

Ungewöhnlich geht es weiter, wird Sputnik doch in eine Familie geboren, in der sich typisch Deutsches vereinigt: das Land der Dichter, Denker und Komponisten mit der Hölle des Holocaust. Sein Vater vertieft sich in Kant, seine Mutter führt ihn ein in die Welt der Musik und der Literatur und begeistert ihn für das Theater, das er schon als Kind häufiger besucht als Normalsterbliche in ihrem ganzen Leben. Beide sind gezeichnet, traumatisiert von den Gräueln des Nationalsozialismus (Berkels Mutter war Jüdin, sein Vater Stabsarzt beim Roten Kreuz).

Es folgen detaillierte Berichte seiner Schulzeit, seiner ersten sexuellen Erfahrungen, einiger Drogenexzesse und seiner bisweilen harten Ausbildung zum Schauspieler. Wie auch in den ersten beiden Büchern verbindet Berkel die individuelle Geschichte seiner Protagonisten mit historischen Ereignissen.

Sputnik besucht eine französische Schule in Berlin und verbringt zwei Jahre in Paris. Für den Teenager, er ist gerade mal 15, ist es der frühe Aus- und Aufbruch. Sputnik beschließt, ganz und gar Franzose zu werden, wird dann aber mit der bitteren Erkenntnis konfrontiert, dass auch die französische bürgerliche Gesellschaft in Konventionen erstickt ist und ihn niemals als Landsmann akzeptieren wird, da er das Kainsmal des Nationalsozialismus trägt. Seine Selbsterfindung mündet im Unentschiedenen:

»Uneindeutigkeit war zu meiner Identität geworden. Ein Leben zwischen den Stühlen, nicht jüdisch, nicht französisch, nicht deutsch.«

In einer weiteren zentralen Szene sitzt die Familie mit Freunden zusammen, dem sogenannten »Kreis«, um gemeinsam die im Januar 1979 ausgestrahlte, Deutschland erschütternde US-Serie »Holocaust« zu sehen. Das sich anschließende Gespräch wird zu einem dramatischen, fast surrealen Einakter über die Unfähigkeit von Tätern und Opfern gleichermaßen, über die faschistische Vergangenheit direkt und ehrlich zu sprechen. Deutsches Bier wird zum Sinnbild der Flucht vor der Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung. Am Ende des Films fragt sich Sputnik, wie die Menschen »so vom Bösen infiziert« und danach »wieder normal« sein konnten. Die Antwort gibt ihm Pfarrer Krajewski, der das Schweigen bricht:

»Der Herr Pfarrer nahm einen Schluck Bier. Er atmete zufrieden aus.

›Tja, also ich muss schon sagen …‹

Alle Augen richteten sich auf ihn.

›Je älter man wird, desto mehr beginnt man, das Bier zu schätzen.‹

Allgemeines Nicken.«

Nun könnte man sich natürlich immer wieder die Frage stellen, was autobiografisch, was fiktional ist an all den Gefühlen, Gedanken und Ereignissen. Muss man aber nicht. Der Protagonist ist Christian Berkel. Auch wenn bisweilen die gedankliche Tiefe seines Alter Egos als 7-, 12- oder 15-Jährigem etwas unglaubwürdig ist: Berkel hat eine Romanfigur geschaffen, die für sich steht, deren Suche nach Leben, nach Liebe, nach Identität fesseln und letztlich überzeugen kann.

Wie in seinen ersten beiden Romanen schreibt Berkel sprachlich präzise und variabel und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, metaphorisch treffsicher, zumal er nicht, wie manche Autoren, der Versuchung erliegt, jedwedes Gefühl, jede Betrachtung bildlich zu überhöhen (im ersten Kapitel hingegen hat der metaphorische Stil zwangsläufig eine tragende Funktion).

»Sputnik« ist ein ungewöhnlicher Entwicklungsroman und eine Hommage an jede Form der Kultur, insbesondere an das Theater, gelungen. Mit dieser Trilogie hat sich der Schauspieler Christian Berkel als ernst zu nehmender deutscher Romancier etabliert.

Christian Berkel: Sputnik.
Ullstein Verlag, Mai, 2025.
384 Seiten, Hardcover, 26,00 €.

Diese Rezension wurde verfasst von Wolfgang Mebs.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.