Das Fischerdorf Boros liegt an einem großen See, der systematisch vergiftet und ausgebeutet wird. Die Menschen in Boros glauben an den Seegeist, der einmal erzürnt, durch ein Menschenopfer besänftigt werden kann. Auch Nami glaubt an ihn und dass die Erzürnung des Seegeistes mit seinem Schicksal verknüpft ist. Schon vor seiner Geburt liegt ein Zorn auf seinem Leben, in dem alles zerrinnt, was gut war: Mutter verschollen, Vater unbekannt, Großeltern früh verstorben. Misshandelt und beschimpft flieht Nami in die fremde Hauptstadt. Dort soll es für ihn eine Zukunft geben. Doch aus irgendeinem Grund scheint ihn die Rache des Seegeistes zu verfolgen.
Die Prager Autorin Bianca Bellová darf man als vielseitige Künstlerin sehen, die den Gebrauch der Sprache in- und auswendig beherrscht. Sie schreibt neben Novellen auch Romane und Übersetzungen. Darüber hinaus arbeitet sie als Dolmetscherin.
In ihrem Roman »Am See« thematisiert sie die Haltbarkeit von Unschuld und Reinheit in Gestalt des Jungen Nami, der unter widrigen Bedingungen erwachsen wird. Nami, lernt laufen, zuhören, schwimmen und geht zur Schule. Völlig unvorbereitet steht er vor seinen Gegenspielern: der grausamen Seite des Aberglaubens und der Willkürherrschaft der Russen. Lakonisch und bildhaft zugleich beschreibt Bianca Bellová die menschenverachtenden Lebensbedingungen und ihre Opfer in der von Männern dominierten Welt, zu denen nun auch Nami als Arbeitssuchender gehört.
»… Die Arbeiterbörse besteht aus Männern in Dreier- oder Viererreihen, die in allen Farben der Traurigkeit gekleidet sind … Ihre abgearbeiteten Hände mit den für alle Ewigkeiten eingefressenen Schmutz ballen sie zu Fäusten. Wenn auf der Straße ein Auto mit einem potenziellen Interessenten … anhält, stellen sich die Männer aufrecht hin … Ein Stück weiter steht ein Heer von weiblichen Leiharbeiterinnen …« (S. 90)
Der minderjährige Nami sucht in diesen Reihen ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen. Und mit jedem neuen Arbeitgeber steht und fällt die Hoffnung auf sein persönliches Glück an den seltsamsten Orten.
»… Das Hyatt-Hotel und die Gebäude der globalen Konzerne aus Glas und Beton ragen bedrohlich in den Himmel wie massive Erektionen, unpassend wie ein Mann mit Smoking vor einer billigen Imbissbude.« (S. 120)
Ähnlich wie bei Charles Dickens findet ein auf sich allein gestellter Junge väterliche und mütterliche Beschützer, die ihm beim Überleben helfen. Während Dickens seine Gesellschaftskritik in viele Hundert Seiten verpackt, schenkt die Autorin eine moderne, spannende Variante, die jederzeit und überall Gültigkeit findet. Mehr kann zeitgenössische Literatur kaum bieten.
Bianca Bellová: Am See.
Kein & Aber, Februar 2018.
240 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.