Der Soldat Veit Kolbe hat mit seinen knapp 24 Jahren schon vier Kriegsjahre auf dem Buckel, als er Ende 1943 an der Ostfront verwundet wird. Nach einem Aufenthalt in einem Lazarett reist er zum Genesungsurlaub zu seinen Eltern in Wien. Veits Wünsche auf dem Heimweg sind bescheiden: Alleine in einem Zimmer schlafen, nicht mehr mit erfrorenen Finger unter dem LKW im Schnee liegen oder alle vier Wochen eine neue Zahnbürste bekommen. All das hat ihm im Krieg gefehlt und auch, wenn sich diese Wünsche in Wien erfüllen, kehrt er in ein ihm fremdes Zuhause zurück. Die Eltern gehen ihm auf die Nerven, er gibt vor allem seinem Vater die Schuld an einer verdorbenen Kindheit, in der die Schlagworte „Standhaftigkeit“ und „Konsequenz“ die Hauptrolle spielten.
„Was die Familie an Persönlichkeitszerstörung anfängt, setzt der Krieg fort“, notiert Veit in seinem Tagebuch. Als er es nicht mehr aushält, besorgt ihm sein Onkel Johann, Gendarmeriepostenführer in Mondsee, ein Zimmer, in dem er sich weitab der Großstadt erholen kann. Johann ist ein Opportunist, wie er im Buche steht. Davon profitiert auch Veit, der durch den Onkel zu einem funktionierenden Ofen und mancherlei anderen Vergünstigungen kommt, ihn aber dennoch für seine Haltung verachtet.
Im Salzkammergut ist vom Krieg noch nicht viel zu spüren. Ruhe kehrt in Veits Leben ein, die Genesung schreitet voran und er lernt eine Reihe von Leuten kennen, von denen er einmal schreibt: „Im Grunde sind alle Menschen seltsam.“ Doch er knüpft Kontakte zu den Mädchen und ihrer Lehrerin aus Wien, die im Rahmen der Kinderlandverschickung in Schwarzindien (das gibt es dort wirklich!) sind. Er freundet sich mit dem „Brasilianer“ an, einem Nachbarn, der gegenüber eine kleine Gärtnerei betreibt und lieber heute als morgen zurück nach Brasilien möchte, wo er einige Zeit gelebt hat. Und vor allem verliebt er sich in die Darmstädterin Margot, die mit ihrer Tochter, der neugeborenen Lilo, im Zimmer neben ihm wohnt.
Dazwischen werfen ihn Panikattacken aus der Bahn. Schreckensbilder des Krieges rauben ihm zeitweise den Lebensmut, bis er von einem Arzt mit Pervitin, dem bevorzugten Munter- und Glücklichmacher der deutschen Truppen, versorgt wird, das er schon bald bei jeder „Unpässlichkeit“ zu sich nimmt. Veit entzieht sich im Laufe des Jahres mehrfach der Rückkehr zur Truppe, er will „mit dem ganzen Scheiß“ nichts mehr zu tun haben, will nur „sein kleines Privatleben führen, wie es in einer besseren Welt selbstverständlich wäre.“ Seine (verheiratete) Geliebte Margot ist für ihn „seit Jahren der erste erfolgreiche Versuch, mein Glück zu korrigieren“.
Doch auch Mondsee ist keine Insel der Seligen. Der Terror der Nationalsozialisten macht beispielsweise nicht vor dem „Brasilianer“ halt. Am Ende nähert sich auch der Krieg. Salzburg wird bombardiert, Flüchtlinge bevölkern den Ort und Veit erhält nach fast einem Jahr „Auszeit“ den Marschbefehl.
Der Österreicher Arno Geiger, unter anderem ausgezeichnet mit dem deutschen Buchpreis, ist ein außergewöhnlicher Erzähler. Auf der Grundlage von historischen Dokumenten entwickelt er eine Handlung, die den Krieg, den Nationalsozialismus und seine Auswirkungen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Dabei setzt er immer wieder Schrägstriche zwischen die Sätze und animiert so dazu, im Lesefluss innezuhalten.
Neben Veit Kolbe kommen auch der 17-jährige Schüler Kurt, die Mutter von Veits Geliebter Margot und der jüdische Zahntechniker Oskar Meyer zu Wort. Jede Stimme klingt authentisch, hat ihre eigene Sprache, ihren eigenen Ausdruck und erzählt von dem, was für diese Person wichtig ist.
Kurz schreibt rührende und verzweifelte Briefe an seine erst 13jährige Cousine Nanni, die aus Wien ins Lager Schwarzindien verschickt wurde und die er heiß und innig liebt. Margots Mutter beschreibt in ihren Briefen wiederholt die Zerstörung Darmstadts, die Verzweiflung und das Grauen, aber auch die kleinen Lichtblicke im Alltag (wie die Wolken über den Himmel jagen oder wie sie mit ihrem Mann abends in der Kneipe ein Bier trinkt und Karten spielt). Aus Oskars Feder erfahren wir hautnah die elende Lage der Juden, Flucht, Verfolgung und Hoffnungslosigkeit.
Das Buch „Unter der Drachenwand“ gibt tiefe Einblicke in das (Seelen-)Leben verschiedener Menschen im Kriegsjahr 1944, ganz subjektiv, aber doch einen historischen Bogen spannend. Es bleibt offen, was tatsächlich geschehen und was erfunden ist. Doch das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass alles genauso hätte passieren können und dass Arno Geiger ein herausragendes Buch gelungen ist.
Arno Geiger: Unter der Drachenwand.
Hanser Verlag, Januar 2018.
480 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.
Sehr gut, hole ich mir.