Annette Mierswa: Liebe sich, wer kann

Als Lotti Jakob anruft und ihn dazu überredet, sie auf einer Wanderung zu begleiten, ist er überglücklich. Lotti, die Schulsprecherin, die schöne Lotti, die Bonzentochter, eine mit der jeder Junge befreundet sein will, Lotti, seine heimliche Liebe, hat ihn erwählt. Die Wanderung durch die Wälder zu einem geheimnisvollen Ziel soll vier Tage dauern. Für Jakob könnte die Wanderung ewig dauern. Genaugenommen will er bei ihr bleiben und nie mehr zurück.

„Sie hatte ja keine Ahnung, wer mir alles im Nacken saß. Eine ganze familiäre Bullenherde, dazu der Keiler und seine Jungs und, nicht zu vergessen, mein verdammter Selbsthass.“ (S. 182)

Den Überlebensleitspruch ‚Rette sich, wer kann‘ hat die Autorin Annette Mierswa umformuliert. Ihr Leitthema sind Angststörungen und Depressionen. Am Beispiel von Jakob und Lotti zeigt sie, wie wichtig Selbstsicherheit und Eigenliebe sind. Wer sich selbst wertschätzt und gut behandelt, kann besser mit gedankenlosen Rüpeln klarkommen.

Im Zentrum ihrer Geschichte steht Jakob, der in der Familie unter einem prolligen Vater und älteren Zwillingsbrüdern leidet. Sie und verschiedene Mitschüler haben Jacob beigebracht, er sei nichts wert, ein Opfer, eine Peinlichkeit, und jeder hätte aus diesem Grund das Recht jederzeit auf Jakob einzutreten. Eine Schulpsychologin hat Jakob viele Tipps gegeben, seine Abwehrmechanismen zu stärken und sich selbst lieben zu lernen.

Jakobs Leid thematisiert die Autorin so einfühlsam, dass es harmonisch in die Geschichte einer Reise eingebettet ist. Die Reise zu sich selbst leistet auch Lotti. Beide haben sich gefunden, um ihren Weg in die Welt der Erwachsenen zu finden. Wer will ich sein? Was will ich bewirken? Wo gehöre ich hin? Auf ihrem Weg durch die Wälder treffen sie auf unterschiedliche Personen, die Stellvertreter einer Richtung sind. Aber auch Nachrichten über ihre Handys sorgen immer wieder für Aufregung. Es scheint, als wollte das zurückgelassene Leben sie nicht loslassen.

Bei der Lektüre baut sich viel Empathie auf und auch eine große Portion Freude, wenn man miterleben darf, wie Jakob aus sich herauswächst, selbstbewusst wird und endlich heilen darf. Seine heimliche Liebe inbegriffen.

Annette Mierswas berührender Jugendroman ist nicht nur zeitgemäß und modern, er kommt auch pünktlich zu einer Leserschaft, die über das Internet und Werbung zahlreichen Manipulationsversuchen ausgesetzt ist. Sie zeigt: Wahre Werte sind analog. Kein Internetprogramm und Chat können hilfesuchende Menschen tröstend umarmen. In ihrem Nachwort schreibt die Autorin: „Was ist normal? Das fragt sich Jakob. Und das habe auch ich mich immer wieder gefragt. Perfektion ist es jedenfalls nicht. Aber mit sich selbst fürchterlich unglücklich zu sein, ist es auch nicht. Dann ist Hilfe nötig.“

Annette Mierswa: Liebe sich, wer kann.
Loewe, August 2021.
240 Seiten, Taschenbuch, 6,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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