Anne Pauly: Bevor ich es vergesse

Wer bei dem Titel und der Ankündigung einer Vater-Tochter-Geschichte über das Abschiednehmen an Demenz denkt, was vielleicht naheliegt, der irrt.

Annes Geschichte beginnt am Totenbett ihres Vaters, als sie – gemeinsam mit ihrem Bruder – ins Krankenhaus gerufen wird, nachdem der Vater verstorben ist. Zusammen mit Jean-Francois ist sie gekommen, um die wenigen Habseligkeiten ihres Vaters abzuholen und sich von ihm zu verabschieden. „Die Reusen einholen“, dieser Spruch kommt ihr in der Klinik in den Sinn. Das würde er jetzt wohl gesagt haben, wenn er sie so sähe. An dieser Stelle beginnt so etwas wie ein stummer Monolog, der uns durch diesen leisen, anrührenden Roman trägt. Handlung gibt es kaum, auch wenn man natürlich dabei ist, wenn Anne die Beerdigung vorbereitet, Gespräche mit dem Pfarrer oder Gemeindemitgliedern, mit Nachbarn im Dorf oder mit Verwandten führt, die Formalitäten erledigt, mit denen ihr Bruder sie alleine lässt, aber all das ist eher im Hintergrund. Anne arbeitet auf. Eine Vergangenheit mit ihrem Vater, von dem sie offensichtlich nicht viel weiß. Zen-Buddhismus, orientalische Philosophie, das hat ihn interessiert. Aber er war auch Alkoholiker, häufig gewalttätig.

Er kam aus einfachen Verhältnissen, was er erreicht hatte, hat er sich selbst erarbeitet. Das Leben mit ihm war nicht leicht. Beim Räumen des Hauses fallen Anne immer wieder Dinge in die Hand, die eine Erinnerung heraufbeschwören, Gefühle wecken oder auch die ein oder andere Angst wieder aufleben lassen. Annes Gefühle sind zwiespältig und widersprüchlich. Es fällt ihr nicht leicht, einen Strich unter das gemeinsame Leben mit dem Vater zu ziehen. Erst als sie durch Zufall auf den Namen einer ehemaligen Jugendfreundin ihres Vaters stößt und Kontakt zu ihr aufnimmt, gelingt es, den Vater in einem ganz neuen Licht zu sehen. Zu erkennen, wie sein Leben wirklich war. Zu sehen, dass er auch eine sanfte, verwundbare, zerbrechliche Seite hatte.

Ein anrührender, emotionaler Roman, der als „Lieblingsbuch des französischen Buchhandels“ ausgezeichnet wurde. Die Übersetzung aus dem Französischen trifft den oft zarten Ton sehr gut.

Anne Pauly: Bevor ich es vergesse
Aus dem Französischen übersetzt von Amelie Thoma
Luchterhand, April 2024
173 Seiten, Hardcover, 22,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.

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