Schon auf den ersten Seiten drängte sich mir – vom bestens genossenen lockeren Schreibstil inspiriert – der Vergleich mit Karsten Dusses Bestseller „Achtsam morden“ auf und mit Tatjana Kruses K&K-Hobbydetektivinnen etwa aus „Der Gärtner war’s nicht!“. Als Mensch, der selbst Bücher samt Krimis schreibt, lese ich analysierend. Doch bei „Die Schwebfliege“ warf ich bald jede diesbezügliche Absicht über Bord und gab mich ganz dem Lesevergnügen hin. Wer auf Grund von Cover und Klappentext glaubt, einen „normalen“ Krimi zu kaufen, wird von Anja Gust mit einem fesselnden, jedoch leicht lesbaren und unterhaltsamen Psychothriller bedacht.
Bizarr erscheint Hinnerk Thies seine Situation, als er einem aufdringlichen Passanten aus dem Weg gehen will und sich in ein fremdes Wohnhaus flüchtet. Das unerwartete Wiedersehen dort mit einer alten Bekannten wirft Probleme auf, und so sieht sich der auf Harmonie bedachte städtische Angestellte bald nicht nur in Gesellschaft jener Tatjana, sondern auch im Streit mit Hamburgs Kiezgrößen. Entspringt Tatjanas Geständnis, ihn zusammen mit ihrem ‚Macker‘ Berti erpressen zu wollen, wirklich ihrem Gewissen oder ist es Teil eines perfiden Plans, ihn in den Sumpf des Rotlichtmilieus zu ziehen und zu ihrem eigenen Vorteil untergehen zu lassen? Schließlich kennt er sie von früher als durchtriebenes Luder. Und so ist er hin- und hergerissen zwischen Zuneigung und dem Zweifel, aus der vom ihm recht früh erkannten Intrige nicht unbedingt als Sieger, zumindest aber lebend hervorzugehen. Doch Gust zieht die Kreise noch weiter …
Umgangssprache als Stilmittel? Dass das durchaus zu riesigem Lesevergnügen führt, beweist Gusts »Schwebfliege«. Vor allem, weil die zuweilen derbe und dennoch jugendfreie Sprache hervorragend zum Setting passt. Auch die Namen, die Anja Gust ihren Figuren gibt, spiegeln treffend das Milieu wider, in dem sie sich bewegen – Hamburgs Halbwelt. So passt alles zusammen: Handlung, Sprache, Namen und Setting. Dazu kommen die Überlegungen, die Befürchtungen und das Über-sich-Hinauswachsen des „kleinen“ Angestellten Thies, der wegen seines Faibles für Insekten mit dem Spitznamen „Schwebfliege“ belegt wird. Die so genannte „innere Heldenreise“, wie das Wachsen an der Aufgabe literarisch genannt wird, bringt Gust anders als viele Krimiautoren gekonnt auf den Punkt. Ein weiteres Plus ist der unterhaltsame Wechsel zwischen Thies‘ „Innenschau“ und den zumeist tiefgründigen, oft satirisch angehauchten, stets aber unterhaltsamen Dialogen, was auch dazu beiträgt, die Geschichte samt ihrer Dramatik als authentisch zu fühlen.
Wer einfach einen Krimi erwartet, wird positiv überrascht sein. Beste Unterhaltung – getragen durch eine Portion Zynismus und eine leise Sozialkritik – paart sich mit Spannung, die ab der ersten Seite die sich steigernde Neugier des Lesers nährt. Das Buch empfehle ich jedem, der Krimis mit psychologischem Tiefgang mag und der nicht zum Lachen in den Keller geht.
Anja Gust: Die Schwebfliege.
telegonos-publishing, März 2022.
436 Seiten, Taschenbuch, 17,90 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Michael Kothe.