Andrej Kurkow: Samson und das gestohlene Herz

In der zweiten Geschichte über den jungen Polizisten Samson geht es um seine Liebe zu der Untermieterin Nadjeschda und die politischen Unruhen, die Kiew 1920 zu einem gefährlichen Terrain machen.

Zurzeit muss er aufgrund einer neuen Verordnung auch den privaten Verkauf von Fleisch untersuchen. Und während Samson und sein Kollege in der Mietdroschke zu den Zeugen gefahren werden, denkt er häufig an seine Untermieterin. Denn seit Nadjeschda da ist, ist sein Leben weniger leer und zeitweise voller Sorgen.

Noch immer vermisst er seine Familie, die von den Kosaken getötet wurde. Er selbst entging nur knapp dem Tod. Samson hatte Glück, er verlor nur ein Ohr. Nun hört er auf jedem Ohr anders, und er glaubt, mehr wahrzunehmen, als er hören darf oder gut für ihn ist.

Der Autor Andrej Kurkow wurde in St. Petersburg geboren und lebt fast sein ganzes Leben lang in Kiew. Er schreibt in seiner Muttersprache, die zugleich auch die Amtssprache in der Ukraine war. Nach seinem Studium, dem Militärdienst und der Arbeit als Zeitungsredakteur begann er erfolgreich Drehbücher und Romane zu schreiben. Inzwischen zählt er zu den wichtigsten zeitgenössischen ukrainischen Autoren.

In seinem neuen Roman lässt er wieder den Polizisten Samson erzählen. Jeden Tag spürt er deutlicher, wie er durch die Liebe die für seinen Beruf nötige Härte verliert. Schon beim Anblick von Blut und Gewalt weicht er aus, und sein Mitgefühl für andere Menschen bestimmt sein Handeln. Während Samson bei den Fleischkäufern mehr mühsam als erfolgreich ermittelt, wird in seinem Büro und in der ganzen Polizeistation immer wieder etwas gestohlen. Dies irritiert ihn genauso wie die Schulung, auf der er die Zermürbung von Zeugen und Verdächtigen lernt:

„Jetzt nicht schreiben, sondern zuhören!“ Samson wurde von der Stimme des Vortragenden aus seinen Gedanken gerissen. „Zunächst bestimmt Ihre psychologische Einflussnahme auf den Verhafteten den Erfolg oder Misserfolg Ihres Verhörs. … Versetzen Sie den Verhafteten in Angst und Unsicherheit. … Der Verhaftete ist ein Feind unserer Ideen, … unserer Zukunft … unserer Ordnung …“ (S. 194)

Insgesamt verändert sich bei Samson die innere Ordnung. Denn die Liebe stärkt seine menschliche Seite, die ihm eine andere Perspektive schenkt.

„Er dachte nach. … , dass Gott wegen der Verantwortungslosigkeit der Menschen in den Köpfen herumspukte. Er war für alles verantwortlich, daher existierte er auch. Für die einen …, für die anderen vielleicht, und für andere existierte er nicht … Aber das Wort gab es doch. Und hinter jedem Wort verbarg sich ein Gegenstand oder Sinn.“ (S. 343)

Trotzdem will in seinen Augen nichts mehr zusammenpassen. Das Leben aller steht den unberechenbaren Verordnungen gegenüber, die Armut, Hunger und Rechtlosigkeit erzeugen.

Die Umverteilung von Vermögen von unten nach oben und Willkürherrschaft sind nach wie vor aktuell, und dies nicht nur in der Geschichte der Ukraine. Andrej Kurkows wunderschön geschriebener Roman fokussiert die Menschlichkeit. Gleichzeitig überspitzt er das Handeln der Staatsdiener, um den Irrsinn eines totalitären Systems bloßzustellen. Hierfür braucht er keinen erhobenen Zeigefinger, er macht das, was er richtig gut kann – er erzählt die Geschichte von Samson, dem sein Herz auf die beste Art und Weise gestohlen wird.

Andrej Kurkow: Samson und das gestohlene Herz
Aus dem Russischen übersetzt von Johanna Marx und Claudia Zecher
Illustrationen von Juri Nikitim
Diogenes Verlag, Juli 2023
432 Seiten, Hardcover Leinen, 24,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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