Der erfahrene Kommissar Jens Kerner befindet sich an einem Punkt, an dem seine Arbeit eine Bürde geworden ist. Dies liegt auch an der Kollegin, die seit einer Weile wegen Krankheit fehlt. Schaut er auf sein Leben zurück, blickt er auf zwei gescheiterte Ehen, eine leere Wohnung, ein leeres Leben.
Was macht ein Kommissar, der keine Leichen mehr sehen kann und aktuell einen brutalen Serienmörder fangen muss?
Andreas Winkelmann gehört zu den erfolgreichen Thrillerautoren. Er schreibt als überzeugter Naturliebhaber und „Outdoorfreak“ ebenfalls Sachbücher. Während in seinen Thrillern das Perfide, Brutale auf die eine oder andere Weise gestoppt wird, lebt er privat mit seiner Familie zurückgezogen in einem alten, in seinen Augen gruseligen Bauernhof, weit weg von anderen Menschen.
In seinem aktuellen Thriller geht es nur vordergründig um die Ermordung schöner selbstbewusster junger Frauen in der Hansestadt Hamburg. Seine verschiedenen Protagonisten zeigen sich von ihrer menschlichen Seite. Sie treiben Sport, pflegen in den sozialen Medien Freundschaften, zweifeln, haben Angst und machen Fehler. Mal reflektieren sie ihr Handeln und versuchen aus ihrem verhängnisvollen Kreislauf auszubrechen oder sie stolpern, bis sie am Boden liegen. Insbesondere der ermittelnde Kerner erfährt sehr schnell, dass jede seiner Entscheidungen Folgen haben wird, manche kommen ohne Vorankündigung wie ein Faustschlag.
Bei Andreas Winkelmann fehlen die abgegriffenen Erklärungsversuche. Er zeigt am Beispiel eines Mädchens, wie sich die Verkettung von Ereignissen ein Leben lang auswirken. Ihre starke Geschichte berührt und macht gleichzeitig fassungslos. In einer schnörkellosen Sprache beschreibt der Autor die Abgründe im sozialen Brennpunkt. Hier braucht niemand mehr weitere Erklärungen, weder über die Lebensumstände noch über die Schwächen der Erwachsenen. Jede einzelne Szene spricht für sich. Alle Kapitel zusammen offenbaren einen dynamischen Prozess aus Verwicklungen, so dass jeder neue Mord den Kommissar auf eine weitere falsche Fährte lockt. Nichts ist, wie es scheint. Denn die unterschiedlichen Erzählperspektiven zeigen einen komplexen Fall, in dem nichts einfach sein kann. Wie der Mörder vorgeht, kann Kerner an den getöteten Frauen und in Videos sehen. Nur wer er ist, sein Motiv und wie er seine Opfer aussucht, bleiben sehr lange verborgen.
Wer so beiläufig und gekonnt die Gefahren im Alltag offenlegt, weckt Erinnerungen an eine alte Volksweisheit über das gefährlichste Raubtier auf Erden. Ein Spaziergang oder ein Lauftreff mit Gleichgesinnten bekommt hier einen Beigeschmack, den niemand haben will. Und wenn doch, dann nur zur spannenden Unterhaltung in einem Buch.
Andreas Winkelmann: Die Karte.
rororo, Juni 2021.
384 Seiten, Taschenbuch, 12,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.