Ali Smith: Winter

Die schottische Schriftstellerin Ali Smith (Jahrgang 1962) lebt und arbeitet im englischen Cambridge. „Winter“ ist der zweite Band ihres Jahreszeitenquartetts, den der Luchterhand Literaturverlag in einer Übersetzung von Silvia Morawetz am 2. November 2020 veröffentlichte. Der erste Band „Herbst“ erschien 2019 auf Deutsch.

„Gott war tot: das gleich vorweg“ so beginnt Ali Smith ihren Roman „Winter“ und stürzt ihre Leserinnen und Leser in eine Aufzählungswelle toter Dinge. Heiligabend: Sophia Cleves sieht einen Kopf ohne Körper. Ihr Sohn Arthur, genannt Art, schreibt einen Blog („Art in Nature“), ansonsten kontrolliert er Copyright-Verletzungen für eine Unterhaltungsfirma. Er wurde gerade von seiner Freundin Charlotte verlassen und soll Weihnachten bei Sophia in ihrem Haus in Cornwall verbringen. Art heuert das ihm völlig unbekannte Mädchen, das sich Lux nennt, an, ihn als Charlotte zu begleiten. Sophia will keinen Weihnachtsbesuch, entsprechend frostig werden Art und Lux „Charlotte“ empfangen. Lux, die fremde junge Frau, entwickelt einen Draht zu Sophia, Art nicht. Das Verhältnis zu seiner Mutter ist schwierig. Sie rufen Iris an, Sophias Schwester und die „Rebellin“ der Familie. Iris und Sophia haben sich jahrzehntelang nicht gesehen. Damit beginnen Weihnachtsfeiertage, in denen die Welten und Wirklichkeiten dieser vier Menschen aufeinander prallen.

Ali Smiths „Winter“ ist ein furioses Lesevergnügen. Skurril, phantastisch, überraschend. Die dunkle Jahreszeit erscheint gar nicht so dunkel. Überall in der Geschichte blinkt und blitzt es vor Ideen, Humor und Zeitgeschichte. Da sind zuallererst die Charaktere: Sophia, Arthur, Lux und Iris. Jede Figur ist einmalig mit ihren Macken und Eigenheiten. Ihre Schrulligkeiten geraten bei Ali Smith nie zum Klamauk: „Guten Morgen, sagte Sophia Cleves. Schönen Heiligabend. Sie sagte es zu dem körperlosen Kopf. Es war der Kopf eines Kindes, bloß ein Kopf ohne einen Körper dran, der selbständig in der Luft schwebte.“ (S. 13)

Und Weihnachten, das Fest der Liebe, bringt sie alle unter ein Dach. Wie so viele andere Familien auch. Mit Streit und großen Gefühlen. Dabei kommt es dem in Kroatien geborenen Mädchen Lux zu, auszugleichen und die Familienmitglieder ein wenig miteinander zu versöhnen. Sie ist es, die die Schwestern wieder miteinander ins Gespräch bringt, Sophia ein Geheimnis entlockt und sie ist es, die Art die Trennung von Charlotte erleichtert. Sozusagen als „frohe Botschafterin“ an Weihnachten.

Ali Smith versteht sich bestens darauf, Familien- und Zeitgeschichtliches zu verbinden. Brexit, Flüchtlingspolitik, Donald Trump und Boris Johnson, Kunst, Kultur und Natur finden ihren Platz in dieser Geschichte über die fiktive Familie Cleves. Es sind Ali Smiths einmaliger Stil, ihre Art und Weise zu schreiben, ihre rasanten Aufzählungen, ihre geklammerten oder kursiven Einschübe und ihre mal bissigen, mal warmherzigen Dialoge, die mich als Lesende wie schon im ersten Band „Herbst“ dieses Jahreszeitenquartetts beeindrucken und faszinieren. Und auch wenn die deutschsprachigen Ausgaben „Frühling“ (ET 29. März 2021) und „Sommer“ noch fehlen, so läßt sich doch schon heute unschwer prophezeien, dass es sich bei Ali Smiths Jahreszeitenquartett um vier Romane der Extraklasse handeln wird.

Bis es so weit ist, gleicht Ali Smiths phantastische Fabulierkunst in „Winter“ einem Feuerwerk. Auf jeder Seite erwartet die Lesenden eine leuchtende, funkelnde Sprachrakete, der man nur staunend „Aaah“ und „Oooh“ hinterher rufen kann. Bitte lesen!

Ali Smith: Winter.
Luchterhand Literaturverlag, November 2020.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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