Alexandra Blöchl: Was das Meer verspricht

Bisher dachte Vida, ihr Leben auf der kleinen Insel sei prima; genau das Leben, das sie sich auch selbst aussuchen würde. Auf der Insel in Norddeutschland leben nur wenige Menschen. Vidas Eltern führen für die Bewohner und die Touristen einen kleinen Laden und ein Café. Als Vidas großer Bruder Zander nach dem Studium auf dem Festland bleiben will, spürt sie eine Verantwortung ihren Eltern gegenüber, die ihr ungefragt aufgebürdet worden ist. Ihre berufliche Zukunft sieht sie nun in der Küche und im Laden. Dabei versucht sie, die Leerstelle in der Familie zu füllen. So nach und nach wird ihr alter Schulfreund Jannis zu ihrem Vertrauten und Verlobten.

Vidas überschaubares Leben verändert sich schlagartig, als in dem heruntergekommenen, leerstehenden Nachbarhaus eine junge Frau einzieht. In Vidas Augen ist Marie ein besonderer Mensch, für den Freiheit und Selbstbestimmung an erster Stelle steht. Ohne dass Vida etwas dagegen machen kann, verändert Marie ihre Perspektive und ihr Selbstbild.

„Marie […] hatte die Gabe, Menschen aus ihren Schneckenhäusern zu locken, sie dazu zu bringen, mehr von sich zu geben, als sie je vorgehabt hatten zu zeigen. … Womöglich bestand ihr außergewöhnliches Talent auch darin, diese Sehnsucht erst zu wecken – die Sehnsucht danach, jemand anderer zu sein. Offener, mutiger, freier.“ (S. 54)

Und als Vida merkt, dass die neue Perspektive viel mehr als nur eine neue Perspektive ist, hat sich ihre Selbstwahrnehmung unwiederbringlich verändert.

Die in Wuppertal geborene Alexandra Blöchl hat unter verschiedenen Pseudonymen Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Erfolgreich waren auch ihre Fantasyromane für junge Erwachsene. Ihren neuen Roman Was das Meer verspricht hat sie unter ihrem Klarnamen veröffentlicht. Bei diesem Roman handelt es sich um eine dramatische Geschichte, in der Vida, als junge Frau die erste große Liebe kennenlernt und Entscheidungen trifft, die sie früher nie für möglich gehalten hätte.

In ausgeklügelten Charakterzeichnungen lässt die Autorin die Ich-Erzählerin Vida sich selbst und ihr Umfeld analysieren: „Die Vida von damals war eine völlig normale Frau, wie jede andere auch. So zumindest sah ich mich selbst, und ich denke, Jannis hätte mir zugestimmt, meine Eltern ebenso. Ich war fleißig, sanftmütig, loyal. Ich war neugierig, aber nicht so wie meine Insel-Mitbewohner. […] Ich war offen, hilfsbereit, vielleicht sogar ein kleines bisschen mutig. […] Die Vida von damals ging davon aus, jede ihrer Entscheidungen aus freien Stücken getroffen und sich niemals selbst belogen zu haben.“ (S. 46)

Das Spiel mit der Wahrnehmung beherrscht die Autorin perfekt. Sie lädt zu einer packenden und kurzweiligen Lektüre ein, die das Meer, die Freiheit und das Leben im Moment feiert. Von Anfang an weckt Vida Empathie und Neugier. Unweigerlich nimmt man am Abenteuer ihres Lebens Anteil, versteht und begreift, vielleicht aktuell oder auch rückblickend, wie schön und schrecklich zugleich die erste Liebe sein kann.

Alexandra Blöchl: Was das Meer verspricht.
dtv, März 2024.
280 Seiten, gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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