Es ist ja bekannt, dass Erstlingswerke von Autor:innen es oft schwer haben, einen Verlag zu finden. Erst, wenn das zweite oder dritte Buch der Autorin ein Erfolg war, werden die Frühwerke ebenfalls herausgegeben. Dabei stellt sich dann manches Mal heraus, dass die ersten Ablehnungen vielleicht nicht ganz unbegründet waren. Denn die Erfolge der weiteren Romane besagen nichts über die Qualität der Debüts.
Für den vorliegenden Roman von Tayari Jones fällt es mir schwer, genau dies zu beurteilen. Von ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Roman „Das zweitbeste Leben“ war ich wirklich begeistert und ich bedaure, dass ich ihr anderes Buch „In guten wie in schlechten Tagen“ bislang noch nicht lesen konnte.
Ihr jetzt von Arche veröffentlichter Roman basiert auf wahren Ereignissen, die sie aus der Sicht von Kindern erzählt. Die Handlung ist in Atlanta angesiedelt und spielt im Jahr 1979. Damals verschwanden bis zu 20 Kinder. Endgültig aufgeklärt wurden diese Fälle wohl nie. Tayari Jones greift das auf und lässt drei Kinder im Alter von 11 oder 12 Jahren sprechen. Alle drei sind farbig, gehen in dieselbe Klasse auf einer Schule für Farbige und leben in einem Viertel, in dem keine Weißen wohnen. Dennoch sind die Lebensumstände der Drei sehr unterschiedlich.
Im ersten Teil, in personaler Perspektive in der dritten Person geschrieben, berichtet Tasha, eine schüchterne Tochter aus gutem Haus von ihrem Schulalltag. Sie knüpft Kontakt zu einem Jungen, der dann plötzlich spurlos verschwindet. Alle Eltern sind extrem besorgt und lassen ihre Kinder möglichst nicht mehr aus den Augen.
Im zweiten Teil, im Präsens und in der zweiten Person Singular geschrieben, erleben wir die Ereignisse aus der Sicht von Rodney. Er ist ein Außenseiter in der Schule und versucht, mit Octavia, die ebenfalls von allen bei allem ausgeschlossen wird, Freundschaft zu schließen.
Der letzte Teil schließlich schildert die weiteren Vorkommnisse aus der Sicht von Octavia, diesmal in Ich-Form. Sie lebt mit ihrer Mutter in ärmlichen Verhältnissen, ist nachts allein, während die Mutter arbeitet. Octavia fürchtet sich, auch aufgrund der Ängste der Erwachsenen, sehr vor dem Alleinsein.
Tayari Jones trifft genau den Ton der Kinder, ihr gelingt es, die kindlichen Stimmen erklingen zu lassen, so dass man sich beim Lesen tief in deren Ängste und Befürchtungen hineinfühlen kann. Sie macht die Furcht der Kinder, die das Verhalten der Erwachsenen nicht immer verstehen und sich ihre eigenen Gedanken machen, fast greifbar. Insbesondere Octavia ist mir bei der Lektüre sehr ans Herz gewachsen und ich litt mit ihr, wenn sie nachts allein zu Hause wachte, weil sie aus Angst nicht schlafen konnte.
Auch in diesem Roman thematisiert die Autorin, wie schon in „Das zweitbeste Leben“ die unterschiedlichen Lebensverhältnisse der Farbigen und der Weißen in Amerika. Sie beschreibt es ohne Lamento, ohne klagend erhobenen Zeigefinger, aber schonungslos, klar und präzise. Sie findet Worte für den Zorn der Farbigen ebenso wie für ihre Trauer.
Und für mich war genau das das eigentliche Hauptthema des Romans, der Alltag und die Sorgen der Schulkinder und ihrer Familien. Die Vorfälle um die verschwundenen und ermordeten Kinder, auch wenn die Protagonisten unmittelbar betroffen waren, erschienen eher zweitrangig, mehr das Gewürz als die Hauptzutat zu diesem Roman. Das ist kein Nachteil, allerdings weckt der deutsche Titel diesbezüglich falsche Erwartungen.
Ein wenig irritiert haben die Wechsel in der Erzählweise, für mich waren das Brüche. Andererseits verstärkte genau das die Unterschiede zwischen den drei Kindern, passte doch die gewählte Weise recht gut zum jeweiligen Charakter.
Besondere Erwähnung verdient hier auch das Cover des Romans, das optisch und haptisch ein echter Genuss ist.
Fazit: ein lesens- und empfehlenswerter Roman, der jedoch in meinen Augen nicht ganz an die Qualität ihres anderen Buchs heranreicht.
Tayari Jones: Das Jahr, in dem wir verschwanden.
Aus dem Englischen übersetzt von Britt Somann-Jung.
Arche, Juli 2021.
304 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.