Vicky Baum: Zwischenfall im Lohwinckel (1930)

Grandiose Beobachtungsgabe, geschrieben mit spitzer Feder und ebenso humoristischen Spitzen: Vicki Baum, deren wunderbare Gesellschaftsromane einst den Nazis zum Opfer fielen, ist eine lohnenswerte literarische Wiederentdeckung! In ihrem Buch lässt sie Lebensmodelle, Milieus und Menschen aufeinander krachen, dass es eine Lust zu lesen ist! Unterhaltsam, aber mit Tiefgang, dabei von verblüffender Aktualität. Kurz: Die Zutaten, aus dem Klassiker gemacht sind.

Im verschlafenen Städtchen Lohwinckel in Rheinhessen geht in den ausklingenden 20er Jahren alles seinen gewohnten Gang. Bis drei mondäne Berliner mit ihrem Auto im Straßengraben landen, ärztlich versorgt werden müssen und bei der hiesigen Bevölkerung zur Genesung einquartiert werden. Das Trio infernale bringt im Ort alles durcheinander. Da ist die attraktive Leore Lania, Filmschauspielerin und vierfach geschieden, die mit ihrem neuen Lover Peter Karbon – Industrieller, Lebemann, Freigeist – durch die Lande tingelt. Dazu der Mittelgewichtsweltmeister im Boxen, Franz Albrecht, dessen maskuliner Körper so gar nicht mit seinem zartbesaiteten Verhalten übereinstimmen will. Kaum treffen die fortschrittlich gestimmten Berliner auf die konservativen Provinzler, brechen die unter der Oberfläche brodelnden Konflikte hervor: Arbeiterstreiks, amouröse Verwicklungen, alte Fehden, jugendliche Aufstände und medizinische Streitfragen verwandeln Lohwinckel in ein Pulverfass, dass sich in einem tatsächlichen Brand entlädt. Weiterlesen

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Denis Scheck & Christina Schenk: Der undogmatische Hund

Wau oder Wow – das ist hier die Frage! Denis Scheck, aufgrund seiner gewitzten und scharfzüngigen Art momentan wohl Deutschlands beliebtester Literaturkritiker, präsentiert sich hier von einer völlig neuen Seite: als Hundebesitzer seines Jack Russell-Terriers „Stubbs“. Gemeinsam mit seiner Frau Christina Schenk, einer Kulturredakteurin, hat er eine hinreißende Liebeserklärung an sein vierbeiniges Familienmitglied geschrieben. Natürlich wäre Scheck nicht Scheck, wenn er sich hierfür nicht ein paar literarische Finessen hätte einfallen lassen. Neben der erzählerischen Ebene, in der das Ehepaar von seinen Erlebnissen zwischen Hundeschule, Turnierplatz und turbulenten Reisen berichtet, kommt auch Stubbs selbst zu Wort. In seinem „caniden Kanon“ stellt Stubbs elf herausragende Hunde der Weltliteratur vor. Gesehen aus den Augen des Vierbeiners, geschrieben im Kölscher Dialekt, was für Leser außerhalb des Ruhrgebietes durchaus anspruchsvoll sein kann. Doch schließlich dreht der quirlige Jack Russell seine Gassi-Runden in der Karnevalsmetropole am Rhein. Wem Begriffe wie „Rampelsant“ und „schisskojenno“ nichts sagen, findet im hinteren Teil des Buches dankeswerterweise ein Glossar „Ruhrdeutsch – Deutsch“. Weiterlesen

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Monika Helfer: Die Bagage

Ein kraftvolles, autobiografisches Familienepos – ausgezeichnet mit dem Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen – das mit vielen stilistischen Konventionen bricht. Auf 160 Seiten, für ein generationenübergreifendes Familiendrama eigentlich undenkbar gestrafft, verdichtet die Autorin meisterhaft Themen wie Habgier, Neid, Rache, Lust, die gleichzeitige Faszination und Angst vor dem Fremden, zu einem fast schon universellen Gleichnis über Ausgrenzung.

Die „Bagage“ steht für Gesindel, Pack, für eine Gruppe von wenig wertgeschätzten Personen, meist verarmten Familien mit schlechtem Ruf. Eine solche lebt am hinteren Ende eines abgelegenen österreichischen Tals nahe des Bodensees. Die Familie ist von Anfang an auf der Schattenseite des Lebens verortet. Sprichwörtlich, denn die Bergmassive lassen kein Licht auf den Hof und die kargen Felder. Die biblischen Vornamen Maria und Josef nutzen den Eheleuten wenig. Zu ihrer Armut kommen noch weitere Aspekte, die sie einzigartig machen: Beide sind außergewöhnlich schön. Mit ihren schwarzen Haaren, der weißen Haut sowie ihrem ausgeprägten Sinn für Reinlichkeit, unterscheiden sie sich wesentlich von der kränklichen, stinkend-schmutzigen Dorfbevölkerung. Ein Grund, warum sich der Bürgermeister am liebsten mit Josef umgibt. Weiterlesen

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Barbara Pym: Quartett im Herbst (1977)

Vier Arbeitskollegen straucheln im „Herbst“ ihres Lebens – oder vielmehr kurz vor der Rente. Wie kaum eine andere versteht es die englische Autorin Barbara Pym sarkastische Spitzen und leise Untertöne, Humor und Tragik so gekonnt zu vermischen. Ihre vier unterschiedlichen Charaktere skizziert sie haargenau. Die Figuren blitzen so lebhaft vor unserem inneren Auge auf, als würden sie uns bei einem Earl Grey auf dem Sofa gegenübersitzen. Die Autorin staffiert jede einzelne mit ebenso liebenswerten wie skurrilen Eigenheiten aus. Edwin, Norman, Letty und Marcia sind zwar grundverschieden, dennoch verbindet sie mehr als nur ihre Arbeit in der Abteilung einer Londoner Firma. Alle vier sind alleinstehend, einsam und wissen nicht, womit sie die langen Tage abseits des Büros füllen sollen. Oder wie Norman sich angesichts der gefürchteten Ferienzeit eingestehen muss: „Ein paar Urlaubstage hatte er noch in der Hinterhand. ‚Man weiß nie, wozu so etwas gut sein kann‘, sagte er, aber er argwöhnte selbst, dass ihm diese Reservetage nie zu etwas gut sein würden, sondern sich vor ihm ansammeln würden wie die Haufen toten Laubs, die im Herbst auf die Gehsteige geweht wurden.“ (S. 60)

Die menschenscheue Marcia hat eine Marotte: Sie sammelt Milchflaschen und Konservendosen, um sie ständig neu zu sortieren, während Haushalt und Garten verwildern. Seit ihrer Mastektomie schwärmt sie für ihren Chirurgen Dr. Strong. Die Kontrolluntersuchungen werden zum sozialem Highlight. Obendrein sticht sie durch einen ziemlich schrillen Modegeschmack, beziehungsweise durch Fehlen desselben, ins Auge. Weiterlesen

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Franz Hohler: Der Enkeltrick

Die elf Erzählungen des Schweizer Autors sind wie die Alpen, die in seinen Werken häufig eine Rolle spielen. Von starker Substanz und solider Schönheit, strömt das Zufällige oder eben nicht Zufällige, das alltäglich Wahnsinnige und Unerklärliche ganz luzide-leicht durch Schluchten und Klämme in den Plot hinein. Stets streift der Autor gekonnt das Phantastische, bleibt dabei aber im Bereich des Möglichen. So wohnt jeder Erzählung ein ganz besonderes Überraschungsmoment inne. Mal erwischt uns der Autor eiskalt, mal spielt er mit unseren Erwartungen, um sie in denkbar gegenteiliger Art aufzulösen. Scheinbar Harmloses entpuppt als doppelbödig, während offenbar Wundersames als Fälschung entlarvt wird. So oder so: Franz Hohlers Geschichten sind ein literarisches Happening. Aber nach 160 Seiten leider viel zu schnell vorbei.

Allein schon die titelgebende Einstiegsgeschichte hat es in sich. Sie beginnt, wie vermutet, mit einer dementen Dame, die von einer Trickbetrügerin hereingelegt werden will. Doch die Geschichte nimmt eine völlig unerwartete Wendung. Denn es ist gerade die Demenz und gar das vereitelte Verbrechen, welches Amalie zu einem Abenteuer verhilft. Zu einem Traum, den sie sich klaren Verstandes nie hatte verwirklichen können. Dieser Plot-Twist kommt so federleicht daher, so natürlich, dass wir dem Autor ganz selbstverständlich durch die Geschichte folgen. Weiterlesen

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Imbolo Mbue: Wie schön wir waren

Eine überaus kraftvolle Geschichte – ergreifend, bewegend, aufrüttelnd: Die Bewohner des afrikanischen Dorfes Kosawa sind die stolzen Nachfahren des „Leopardenblutes“. Sie leben mit ihren sieben Schwesterndörfern im Einklang mit der Natur. Bis die amerikanische Ölbohrfirma Pexton kommt. Der Diktator des Landes gibt dem Unternehmen das Land, um dort nach dem Schwarzen Gold zu bohren. Öl und Giftmüll fließen fortan ungeklärt in Boden und Wasser. Kinder werden krank und sterben, die Äcker geben keine Ernte mehr her, selbst Heilkräuter verdorren. Die Firma verspricht zu helfen, doch nichts passiert. Alle Bemühungen, sich gegen die Ungerechtigkeit aufzulehnen, werden durch Regierungssoldaten gewaltsam beantwortet. Massaker, Hinrichtungen und Verhaftungen sind die Folge. Die Bewohner hoffen auf die Unterstützung durch Hilfsorganisationen. Doch Pexton hat Geld, der Diktator Beziehungen. Der Frust entlädt sich in der nachfolgenden Generation und deren Leitfigur: Thula, deren Vater einst hingerichtet wurde, studiert in New York. Dort kommt sie mit Protestbewegungen in Berührung. Sie hat eine Vision, ihr Heimatland friedlich zu reformieren. Ihre Freunde in Kusawa drängt es allerdings zu einer blutigen Revolution. „Aber welche Wahl haben wir in einer Welt, in der viele glauben, ihr eigenes Glück hänge vom Unglück anderer ab.“ (S. 103) Weiterlesen

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Marco Balzano: Wenn ich wiederkomme

Ein bewegendes Schicksal: Anhand der Geschichte der Rumänin Daniela, die ihre Kinder zurücklassen muss, um in Mailand Geld zu verdienen, verdeutlicht Balzano den traurigen Werdegang dutzender Frauen aus Osteuropa und anderen Ländern. Sie arbeiten als Altenpflegerin, Krankenschwester, Kindermädchen, Putzfrau. Sie kümmern sich um die Alten und Schwachen, verrichten Arbeiten für die sich der wohlhabende Westen zu schade ist. Eingesperrt mit Kranken, die an komplizierten Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson leiden, bleiben sie nach außen hin oft unsichtbar. Oder wussten Sie, rumänische Psychiater tausende Patientinnen behandeln, die an der „Italienkrankheit“ leiden? Oder dass seit rund 30 Jahren zwei Drittel aller Migranten weltweit Frauen sind? In seinem dreiteiligen Roman schildert der Mailänder Autor die Geschichte sowohl aus Sicht der Mutter, als auch aus Sicht ihrer beiden Kinder, die den Verlust der „Moma“ auf unterschiedliche Weise verarbeiten. Beide müssen schnell erwachsen werden.

Bevor sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert hat, ist Daniela stolz auf ihren früheren Job in ihrer Handelsfirma gewesen. Auch ihr Ehemann hat seine Arbeit verloren und sucht Trost im Alkohol. Für Daniela steht fest: Ihre Kinder Angelica und Manuel sollen es einmal besser haben! Weiterlesen

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Johanna Adorján: Ciao

Bissig, schreiend komisch, treffsicher pointiert: Der einst gefeierte Feuilletonist Hans Benedek sieht sich selbst als Alphatier, erkennt aber nicht, dass er längst auf die Liste aussterbender Tierarten gerutscht ist. In seinen Augen ist er ein charmanter Meinungsbildner, in den Augen seines weiblichen Umfelds ein Macho, der den Anschluss in die Moderne verpasst hat. Er betrügt seine Ehefrau, schläft mit jungen Praktikantinnen, kategorisiert Frauen nach der Größe ihrer Brüste. Doch nun drängen Kolleginnen in Chefetagen, nehmen ihm seine Ressorts weg. Personifiziert wird die neue Generation selbstbestimmter Frauen durch die Feministin Xandi Lochner. Die Influencerin hat den Bestseller geschrieben, der ihm bislang versagt blieb. Sein Versuch an ihrem Erfolg zu partizipieren, indem er ein Porträt über sie schreibt, endet in einer Totalkatastrophe. Diese Chronik eines angekündigten Todes (zumindest auf dem gesellschaftlichen Parkett) ist großes Kino. Vor allem für diejenigen, die selbst in der Kultur- und Medienbranche zugange sind.

Der Charme von Adorjáns Buch liegt darin, dass sie ihre Protagonisten ausgewogen porträtiert. Es gibt keine reinen Sympathieträger oder Antagonisten. Auch die Absurditäten der modernen Welt werden trefflich skizziert. Weiterlesen

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PeterLicht: Ja okay, aber

Herrlich schräg: Für Freunde der absurden Komik und der halsbrecherischen Wortakrobatik hat Musiker Peter Licht genau das richtige Buch geschrieben. Er versteht es, sich aus den einfachsten Alltagssituationen heraus in wahnwitzigen Gedankenwelten zu verirren. Schwankend zwischen genial und grotesk, schlittert er bisweilen anarchisch gekonnt am guten Geschmack entlang. Doch er kriegt jedes Mal die Kurve und nimmt uns mit auf einen phantastischen Ride der Absurditäten, mitten durch den Alltag eines Co-Working-Büros. Da wird die Kaffeemaschine zum Kapitalismustreiber, an dem sich Co-Worker unterschiedlichster Branchen treffen. Zum Beispiel eine feministisch-nudistische Allroundkünstlerin oder einer, „von dem keiner weiß, was er eigentlich tut“. Sowie ein IT-ler mit Verdauungsproblemen plus diverse gestresste Call-Center-Mitarbeiter, denen die Stimme versagt – samt anderer Vitalfunktionen.

Obwohl der Protagonist praktisch im Space aka Büro lebt und schläft, erleben wir ihn nie bei seiner eigentlichen Arbeit. Auch erfahren wir an keiner Stelle, womit er seine Brötchen verdient. Er möchte arbeiten, er will vorankommen… und verplempert doch seine Zeit in der Gemeinschaftsküche oder in gewagten Projekten seines heimlichen Büroschwarmes, der Allrundkünstlerin. In ihren Theaterstücken kann es passieren, dass „ein Rudel nackter Martial-Arts-Kämpferinnen ein Auto vergewaltigt.“ Weiterlesen

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Yaa Gyasi: Ein erhabenes Königreich

Ihre Mutter liegt im Bett und weigert sich aufzustehen – tagelang, wochenlang, monatelang. Für Gifty ist dies ein vertrauter Anblick seit sie elf Jahre alt ist. Die einstmals stolze Frau aus Ghana, die mutig nach Amerika aufgebrochen ist, scheint gebrochen. Zuerst hat ihr Mann sie verlassen. Dann ist ihr Sohn, früher ein gefeierter Basketballstar, an einer Überdosis Drogen gestorben. Seit seinem Tod wird sie von Depressionen geplagt. Ihre Tochter muss schnell erwachsen werden und eigene Antworten auf die Fragen des Lebens finden. Gifty sucht diese in der Wissenschaft, ihre Mutter im religiösen Glauben. Dies entfremdet die beiden Frauen immer mehr.

Erzählt wird die bewegende Geschichte aus der Sicht von Gifty. In Rückblenden schildert sie sowohl ihre eigene Kindheit, als auch die Vorgeschichte ihrer Eltern. Sprachlich völlig ungekünstelt, bedient sich die Autorin anderer stilistischer Mittel, um starke Bilder heraufzubeschwören. So stellt sie zum Beispiel Giftys kindliche Tagebucheinträge ihrer Arbeit als erwachsene Neurowissenschaftlerin im Labor gegenüber. In ersteren bittet die brave Zehnjährige den lieben Gott darum, ihren Bruder von seiner Drogensucht zu erlösen. Bei letzterem begleiten wir Gifty dabei, wie sie Labormäusen Drogen injiziert, um Hirnforschung zu betreiben und das Rätsel zu lösen: Warum machen Menschen Dinge, die ihnen schaden? Weiterlesen

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