Martin steht ohne Familie da, seit sein Vater in einem Anfall von Wahn alle erschlagen hat. Er ist elf Jahre alt, bettelarm und fristet sein Leben als Tagelöhner. Gleich zu Beginn des Romans wird klar: „Er lebt von dem, was er verdient. Sonntags aber wird nichts verdient, da muss er fasten.“ (Kapitel 1)
Doch trotz allem ist er klug und freundlich, dazu ruhig und sehr bedacht. Das können die Menschen um ihn herum kaum begreifen – sie selbst sind ganz anders gestrickt. Und als ob das noch nicht reichen würde, ihn im Dorf zum Außenseiter zu machen, trägt er ständig seinen schwarzen Hahn mit sich herum, von dem alle meinen, er sei der Teufel.
Aber was soll Martin tun? Schließlich ist er hier zu Hause.
Einzig Franzi fühlt sich Martin verbunden und auch sie ist ihm zugetan. Franzi versteht ihn und hat es selbst nicht leicht. „Sie ist sehr schön, und die Männer bekommen Lust, ihr wehzutun.“ (Kapitel 1)
Die Männer, die das Sagen haben, sind vor allem der Henning, der Seidel und der Sattler, von denen Martin denkt, dass sie strohdumm seien (und die Geschichte bestätigt das mit einem wunderbar schrägen Humor) und von denen es heißt: „In der Hauptsache besteht ihre Gabe wohl in der Einschüchterung anderer.“ (Kapitel 4)
Auf dem Weg zum Markt erlebt Martin etwas Schreckliches. Das Kind der Godel wird entführt. Ein Reiter mit schwarzem Mantel reißt es ihr einfach aus den Armen. Martin hat schon Geschichten über den schwarzen Reiter gehört, doch nun sieht er ihn mit eigenen Augen – und ihm wird klar, dass er eine Aufgabe hat: „Den Reiter, jetzt gilt es, er muss den Reiter finden. Er wird die verschwundenen Kinder suchen gehen.“ (Kapitel 6)
So zieht er mit dem Maler, der in der Kirche ein Altarbild gemalt hat und der sich Martin annimmt, davon – hinaus in die Welt, mit einem klaren Ziel vor Augen: die entführten Kinder zu retten. Und vor allem einer wird ihn dabei treu begleiten und unterstützen: sein schwarzer Hahn. „Er wünschte, am Ende des Weges durch den Wald stünde jemand mit einem Licht und würde auf ihn warten und ihm leuchten. ‚Ich bin dein Licht‘, sagt der Hahn. Da schließt Martin die Augen und setzt blind Fuß um Fuß.“ (Kapitel 9)
Die Welt, in die Stefanie vor Schulte Martin und die Leser*innen führt, ist rau und grausam. Sie wird bestimmt von Hunger und Gewalt, von Krankheit und Tod. Kriegsversehrte bevölkern die Straßen. „Die Leichen tropfen von den Bäumen wie vergorene Äpfel.“ (Kapitel 13)
Das Szenario wird zeitlich nicht konkret eingeordnet, Vieles erinnert mich aber an die Zeit des Dreißigjährigen Krieges – doch kluge und gutherzige Menschen gibt es zu allen Zeiten, genauso wie dumme und grausame.
Stefanie vor Schulte erzählt diese eigentlich „schwere“ Geschichte poetisch, mit leichter Hand und manchmal auch mit einem Augenzwinkern, nimmt aber dennoch die Figuren und ihre Lasten, ihre Wünsche und Träume ernst. Sie verschweigt nicht die Tiefschläge, die Trauer, das Leid, doch ihr Ton ist warmherzig oder – wenn es um die Dummheit der Menschen geht – auch gerne mal ironisch. Oft hatte ich das Gefühl, als blinzle durch die finsterste Nacht ein Lichtstrahl.
Martin geht mit seinem reinen Herzen, seiner Neugier und seiner Weisheit aufrecht durch diese Welt, manchmal hat er mich an den kleinen Prinzen erinnert und ich dachte: Warum können wir nicht alle wie Martin sein? „Es ist der Wille zum Guten, der ihn von allen anderen Figuren unterscheidet“, sagt die Autorin Stefanie vor Schulte in einem Interview am Ende des Buches. Diesen Willen wünsche ich uns allen.
„Junge mit schwarzem Hahn“ ist eins meiner Highlights 2021. Der Roman ist märchenhaft und gleichzeitig realistisch, scheint wie aus der Zeit gefallen und ist gleichzeitig zeitlos und aktuell – die Dummheit und die Grausamkeit der Menschen ist noch nicht aus der Mode gekommen, doch es gibt immer wieder jemanden, der sich mit seiner Persönlichkeit, mit Hirn und Herz dagegenstellt. Martin wächst im Laufe der Geschichte – körperlich, seelisch und geistig. Beim Lesen bin ich mitgewachsen.
Der „Junge mit schwarzem Hahn“ hat sehr, sehr viele Leser*innen verdient und ich kann den Roman nur wärmstens empfehlen.
Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn.
Diogenes, August 2021.
240 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.