Es ist 1994, drei Jahre, nachdem die Nachlässigkeit ihrer Freundin Rachel zum Tod von Catrins Söhnen geführt hat. Catrin steckt tief in der Planung ihrer bevorstehenden Rache: Rachel soll endlich zahlen für den Tod der beiden Kinder, und zwar mit ihrem eigenen perfekten Leben. Als ein kleiner Junge verschwindet, stellt das nachfolgende Aufsehen für Catrin nur eine lästige Ablenkung dar, die ihr Vorhaben erschweren wird. Gleiches gilt für Callum, einen schottischen Ex-Soldaten (und Catrins Ex-Lover), der zu ahnen scheint, was in ihr vorgeht… oder hütet er in Wirklichkeit eigene Geheimnisse? Der verschwundene Junge ist bereits das dritte verschollene Kind in den letzten zwei Jahren, allesamt dunkelhaarige Knaben unter sechs – beherbergt die schroffe, ihren eigenen Gesetzen folgende Inselgemeinschaft einen Serienmörder, oder sind die Kinder schlicht den Naturgewalten der Falklands zum Opfer gefallen, die keinen Fehler verzeihen?
Und was hat sich an dem Tag, an dem Catrin ihre Söhne verlor, überhaupt wirklich zugetragen?
Leider blieb das Buch, das theoretisch so viel auf der Haben-Seite vorweisen konnte (ungewöhnliches Setting, faszinierende Inselmythen, nicht zuletzt der Hintergrund des zur Zeit der Handlung nicht lange zurückliegenden Falklandkrieges), weit hinter meinen Erwartungen zurück. Der Roman teilt sich in drei Handlungsstränge, jeweils aus der Perspektive eines anderen Erzählers wiedergegeben. Catrins Erzählung ist hier noch am stringentesten, weist aber auch schon massive Längen auf (die Szene mit den Walen z.B. darf man guten Gewissens überblättern, damit tun sich empfindsamere Gemüter ohnehin einen großen Gefallen). Danach kommt Callum an die Reihe, und es passiert noch weniger Konkretes, dafür wird dem Leser reichlich fragwürdige Hausmacher-Psychologie beschert; denn als ehemaliger Soldat mit Kampferfahrung leidet Callum selbstverständlich an PTSD, die sich in Form spontaner Erinnerungslücken manifestiert – und das praktischerweise immer im dramaturgisch passenden Moment.
Als letzte darf Rachel erzählen, aber auch sie, die umsorgte Gattin, überforderte Mutter und offenbar hauptberufliche Ausreiterin, hat in letzter Instanz nicht viel zu sagen, dafür führt sie Dialoge mit ihrem Pferd. Das antwortet. Sonst wäre es ja kein Dialog. Noch schräger als das sprechende Pferd (und weitaus weniger charmant) empfand ich die absolut unglaubwürdige Art, mit der die Autorin das Verhalten von Rachels Söhnen beschreibt; dagegen erschien mir sogar Callums Gedächtnisschluckauf völlig plausibel.
Ich bin ein großer Fan von anspruchsvoller, vielschichtiger Spannungsliteratur, durchaus mit Betonung auf „Literatur“. Umso enttäuschender ist es, wenn ein Buch soviel ankündigt und so wenig einhält. Die Idee des Perspektivwechsels, an sich reizvoll, wird für mein Empfinden eher uninspiriert umgesetzt, was auch an der mangelnden Dreidimensionalität der Figuren liegen mag. Ich fand alle Charaktere des Romans extrem selbstbezogen und wenig glaubwürdig; das Setting bleibt blass, die Handlung erschien mir konstruiert wie mit dem Technikbaukasten, die „Auflösung“ besitzt die emotionale Wucht eines schlaffen Händedrucks, und der Ach-da-war-ja-noch-was-Clou am Ende… Schwamm drüber.
Ms. Boltons Debüt hat mir seinerzeit gut gefallen, aber in diesem Roman, ihrem achten, fehlte es mir einfach an Tiefe, Farbe, Substanz. Schade.
Sharon Bolton: Böse Lügen.
Manhattan, Oktober 2015.
464 Seiten, Taschenbuch, 14,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von G. K. Nobelmann.