Rainer Zitelmann: 2075: Wenn Schönheit zum Verbrechen wird

Im Jahr 2075 hat die Menschheit begonnen den Mars zu besiedeln und der Mond ist ein beliebtes Ausflugsziel, leicht – wenn auch teuer – von der Erde aus zu erreichen. Auf der Erde macht gerade die politische Bewegung „Movement for Optical Justice“ von sich reden. Ihr – sehr radikales – Ziel besteht darin, die Privilegien auszugleichen, die sehr schöne Frauen – ja nur Frauen – im Leben durch ihre angeborene Schönheit haben. Sie gehen sogar so weit, diese besonders schönen Frauen durch einen chirurgischen Eingriff im Alter von 15 Jahren verstümmeln zu wollen, damit dieser Vorteil eben wegfällt. Als die Partei, die sie unterstützt, an die Macht kommt, steuert die Gesellschaft auf eine Gleichheitsdiktatur zu.

Das Abrutschen der Gesellschaft in eine Diktatur ist anhand der Geschichte von Alexa, einer Schönheit, sehr gut beschrieben. Stück für Stück erleben wir als Leser mit, wie sich immer mehr Menschen überzeugen lassen, wie die Forderungen immer radikaler werden und wie gerne die sich rächen, die glauben früher unter den Schönheiten oder ihrer eigenen Nichtschönheit gelitten und versagt und haben. Dass der Autor dabei gerade „Schönheit“ als angeborenes Kriterium gewählt hat, hat mich vor ein Rätsel gestellt. Ist er ein Genie oder ein Opfer seiner eigenen Vorurteile? Schönheit ist nämlich mitnichten eine angeborene Eigenschaft, sondern meistens das Ergebnis harter Arbeit. Klar, mit vielen Merkmalen von Schönheit wie gute Proportionen oder ein gleichmäßiges Gesicht wird man geboren und kann sie nur schwer ändern. Das nützt Frau aber gar nichts, wenn sie sich nicht mit jeder Menge Einsatz dem gerade geltenden Schönheitsideal anpasst. Haare dürfen nicht einfach wachsen, an keiner Stelle. Da muss man föhnen, schneiden, färben, manchmal schmerzhaft mit Wachs arbeiten, also heute, vor und in 100 Jahren mag das anderen Einsatz erfordert haben, aber „angeboren“ war es nie. Kleidung und ihr Ausdruck sind wichtig und müssen sorgfältig ausgewählt werden. Von Nasen- und Lippenformen will ich gar nicht erst anfangen. Vermutlich gibt es da noch mehr, kenn ich aber nicht, weil ich Gott sei Dank schon seit der Schulzeit zu den Nerds gehörte und das Thema bereits sehr früh abgehakt habe. Ich höre aber immer wieder, dass Frauen zwei oder drei Stunden bevor sie losmüssen aufstehen, weil sie noch alles Mögliche mit sich anstellen. Von angeboren und Schicksal kann da also mitnichten die Rede sein. Und im Gegenteil zum Autor glaube ich durchaus, dass Frauen, die versuchen unzureichende Schönheit zu faken (mit zusätzlichen Kilos und durchgemachten Nächten) damit Erfolg gehabt hätten. Auf der einen Seite finde ich es ja vollkommen genial, dass Rainer Zitelmann dann ausgerechnet „Schönheit“ zum Kriterium erhoben hat, weil es eben so schwachsinnig ist, gerade dabei von angeborenen und schuldlosen Privilegien und Nachteilen zu reden. Auf der anderen Seite beschleicht mich der leise Verdacht, dass es schlicht daran liegt, dass der Autor ein Mann ist.

Ansonsten ist das Thema aber super umgesetzt. Schritt für Schritt werden neu Gesetze und Verordnungen erlassen und ebenso Schritt für Schritt passt sich die Gesellschaft an. Und zwar fast die gesamte Gesellschaft – also auch die Frauen, die der neue Hass trifft. Sie versuchen, ihre Schönheit zu verbergen, und natürlich klagen sie gegen so manche der neuen Bestimmungen. Ihr Schönheitskoeffizient wird von einer neutralen KI bestimmt, da gibt es also nichts zu rütteln. Aber als es darum geht, dass schöne Frauen sich nicht mehr fortpflanzen dürfen, gibt es die ersten Klagen: Die Schönheit sei doch nur das Ergebnis zahlloser Operationen und damit nicht vererbbar wird argumentiert und als die Frage aufkommt, ob nicht ein hässlicher Mann in der Summe die Schönheit der Frau aufheben würde und am Ende ein „normales“ Kind gezeugt würde.

Reiche Männer schmücken sich nicht mehr mit Schönheiten, sondern achten darauf, dass ihre auftauchende Freundin eben nicht zu schön ist. Und vom Mars aus wird das alles augenrollend beobachtet.

Ich fand 2075 eine sehr gelungene Dystopie, eben auch weil die Geschichte recht einfach gehalten und voll nachvollziehbar ist. Die Dystopie hat sich ein beliebiges Merkmal von Menschen herausgesucht und diese Menschen begonnen auszugrenzen. Was daraufhin passiert, ist das, was dann immer passiert. Dadurch, dass die Geschichte aber wirklich gut lesbar, spannend und eben auch möglichst simpel gehalten wurde, konnte ich das als Leser gut nachvollziehen. Und auch ohne zwischendurch Puls zu bekommen, weil der Autor schlauerweise eben keine schon beginnende Ausgrenzung gewählt hat, sondern eine völlig abstruse.

Rainer Zitelmann: 2075: Wenn Schönheit zum Verbrechen wird
Langen-Müller, 05/25
288 Seiten, gebundenes Buch, 22 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Regina Lindemann.

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