Es sind nicht nur Ladies, die hier das Zepter beziehungsweise Chloroform in der Hand halten. Auch mündet nicht jede Story im Ableben einer Hauptfigur. Jedoch tragen alle Geschichten die unverwechselbare Handschrift der Meisterin psychologischer, spannender Romane: Patricia Highsmith. Hier geht es weniger um das „Whodunit?“, sondern um das „“Whydunit?“. Um die Motive, Sehnsüchte, Ängste und Psychosen, welche ihre Figuren antrieben. Mit Eleganz, Humor und einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit führen uns Highsmiths Figuren um die Ecke, in Katastrophen, in die wir mühelos schlittern können. Es genügen Kleinigkeiten, um das fragile Konstrukt der Existenz aus der Bahn zu werfen. Ein Brief aus Nachbars Briefkasten. Eine intime Beobachtung auf einem Spielplatz. Hobbies, die ein Eigenleben entwickeln. Der falsche Bahnhof, die falsche Bar – es braucht nicht viel, um auf Abwege zu geraten.
So behandeln die 16 Geschichten dieses Erzählbandes nicht nur Verbrechen im eigentlichen Sinne, sondern Alltagssituationen, bei denen verborgene Emotionen wie Neid, Arroganz, Vorurteile, Einsamkeit oder Zwangsneurosen ans Tageslicht gelangen. Sie verleihen dem Geschehen einen unerwarteten Subtext. Menschen geraten nicht ohne Grund aus dem Lot. Wer die richtigen Knöpfe drückt, kann hinter jeder (New Yorker) Straßenecke in eine plötzliche Ausnahmesituation gelangen. Die Autorin führt uns mitten hinein in die Gedanken ihrer Figuren, lässt als allwissende Erzählerin zudem herrlich schwarzhumorige, trockene Beobachtungen einfließen. Ob Postzustellungen, Schulaufführungen oder das Paarungsverhalten von Schnecken – Sie werden danach die Welt mit anderen Augen sehen…
Die Kurzgeschichten dieses Bandes stammen aus den 30er und 40er Jahren. Sprich: Vor Highsmiths internationalen Durchbruch durch ihre Bestseller „Zwei Fremde im Zug“ und „Der talentierte Mr. Riply“. Das erste Werk wurde 1950 von Alfred Hitchcock verfilmt, das zweite mit Alain Delon 1960 in der Titelrolle besetzt. Highsmiths Talent ist auch hier allgegenwärtig. In diesem Erzählband enthalten ist zum Beispiel „Die Heldin“, welche 1945 zu den besten Kurzgeschichten des O.-Henry-Preises gewählt wurde. Hier beschreibt die Autorin meisterlich eine Art „Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom“. Das Grauen schleicht sich unscheinbar in Form eines sympathischen Kindermädchens ein. Gerade die Selbstverständlichkeit mit der Highsmith die Handlung aus Sicht ihrer Hauptdarstellerin schildert, sorgt für nervenzerreißende Spannung. Denn oftmals schaffen es die „Bösewichte“ in Highsmiths Büchern, sich eine gewisse Aura oder gar Unschuld zu bewahren. Gefangen in ihrer eigenen Welt, machen aus IHRER Sicht die Handlungen durchaus Sinn.
Absolut köstlich mutet der Einstieg in die Lektüre an: „Die Legende des Klosters von Saint Fotheringay“ spiegelt Geschlechterklischees auf kuriose Art. In einem abgeschiedenen Kloster leben nur weibliche Nonnen. Den Klosterschülerinnen wird verkündet, dass alle Männer auf der Welt ausgestorben seien. Zu dumm, dass ein Findelkind männlicher Natur ist. Was von den Nonnen einfach ignoriert wird. Trotz aller gegenpoligen Erziehungsmaßnahmen hat „Mary“ bald die Hosen an. Bis am Ende die Bombe platzt. Beziehungen – vor allem diejenigen zwischen Männer und Frauen – erweisen sich in Highsmiths Stories ebenfalls als Minenfeld emotionaler Entgleisungen. Nicht einmal das Tierreich ist davor gefeit.
Fazit: Expect the unexpected! Wer das Abgründige im Alltäglichen, das Heitere im Neurotischen, das Bösartige hinter dem Zivilisierten mag, wird diese Stories lieben. Highsmiths Frühwerk mit teils unveröffentlichten Geschichten bietet ein wundervolles literarisches Potpourri, das uns gleichfalls erschaudert wie erheitert. Die Autorin präsentiert die Entgleisungen der Existenz so nonchalant, tiefsinnig und scharf beobachtet, dass wir künftig gewarnt sind. Zumindest auf diesen 320 gelungenen Seiten.
Patricia Highsmith: Ladies: Frühe Stories.
Diogenes, Oktober 2020.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.