Der Student Supratik ist mit einem golden Löffel im Mund geboren. Seine Großfamilie besitzt mehrere Papierfabriken und lebt in Kalkutta in einem riesigen, vierstöckigen Haus zusammen mit vielen Dienern. Eigentlich könnte Supratik den Luxus genießen wie seine Eltern, Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Er könnte in Ruhe studieren und danach Karriere machen. Die Eltern und Großeltern würden ihm den Weg ebnen oder sogar extra eine Firma für ihn kaufen. Doch Supratik hat die Lehren Maos kennengelernt. Seitdem sieht er seine Welt mit anderen Augen. Er ist wachgeworden und erkennt überall Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Missbrauch der Macht. Mit Gleichgesinnten geht er in die Dörfer, schuftet mit den Bauern auf den Feldern, schläft auf nacktem Boden, hungert und friert.
Maos Lehren sollen die eingetrichterte Demut der niederen Kasten gegenüber den räuberischen Arbeitgebern und Pfandleihern aufbrechen. Im Laufe der nächsten zwei Jahre gelingt ein Aufstand, der sich wie ein Flächenbrand auszubreiten scheint. Während Supratik auf der Seite der Armen für Gerechtigkeit kämpft, stehen die Fabriken seiner Familie still, und ihr Vermögen schwindet.
Die neuen Herausforderungen sind nicht mehr mit den üblichen Mitteln zu bändigen.
Im hohen Alter und von Krankheit gezeichnet erkennt Supratiks Großvater, als er nur noch formal das Familienoberhaupt sein darf:
»… Alles war vom Schicksal vorherbestimmt. Oder es liegt am Blut. Schlechtes Blut schlägt immer durch. All die Dinge, die ich glaubte, weit hinter mir gelassen zu haben … wie habe ich mich getäuscht! Die ganze Verkommenheit und Genusssucht, alles, alles habe ich an meine Kinder weitergegeben. Ich habe das Gefühl, ich bin nur ein Verbindungsrohr zwischen dem vergangenen Schlechten und dem künftigen Schlechten gewesen.« (S. 435)
Beiläufig schlägt der Autor einen Kreis um drei Generationen. Neel Mukherjees Kunstfertigkeit erlaubt unterschiedliche Zugänge, ob als Familienepos, als Lehrstück für die Strukturen der Macht oder auch als Sittengemälde. Das Leben von Supratiks Großfamilie ist nicht nur dicht und plastisch erzählt, sondern reißt den Leser mit in ein fremdes Land voller drastischer Episoden. Entstanden ist ein kurzweiliges und zugleich lehrreiches Lesevergnügen.
Mukherjee, geboren 1970 in Kalkutta, studierte in Oxford und Cambridge. Heute lebt der preisgekrönte Schriftsteller in London und schreibt unter anderem für The Guardian, Times Magazin und The New York Times. Seine Fabulierkunst lässt nicht nur auf weitere faszinierende Literatur hoffen. Sie verdient einen Platz ganz oben auf dem Literaturthron.
Neel Mukherjee: In anderen Herzen.
Verlag Antje Kunstmann, März 2016.
600 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,00Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.