Wie kommt es, dass die scheinbar rachsüchtige Hera so oft missverstanden wird? Warum wären Furien für die heutige Politiklandschaft wichtig? Was zeigt uns Athene über moderne Kriegstraumata? Warum galt ausgerechnet die jungfräuliche Artemis als eine Schutzgöttin der Geburt? Keine erzählt die jahrtausendealten Sagen der antiken Mythologie so neu, klug, gewitzt wie Natalie Haynes. Die englische Autorin, die in Cambridge Altphilologie studiert hat, lenkt den Blick auf die weibliche Perspektive. Auf Details, die Ihnen bislang entgangen sind. Sie legt uns eine andere Lesart des Geschriebenen aus der Feder von Homer, Ovid & Co nahe.
Ohne Ehemann tonangebend
Ihr immenses Wissen – gibt es eigentlich irgendwelche Statuen oder Bilder, welche Haynes nicht kennt? – paart sie mit persönlichen, ironischen Anmerkungen und transferiert den Kern von der Geschichte ins Hier und Heute. So folgen wir staunend den Göttinnen Hera (Götterkönigin), Aphrodite (Göttin der Schönheit, Lust und Liebe), Artemis (Göttin der Jagd, Waldtiere und des Mondes), Demeter (Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit), Hestia (Göttin des Herdfeuers), Athene (Göttin der Weisheit, Schutzgöttin Athens), den neun Musen (zuständig für die schönen Künste rund um Tanz, Musik, Theater und Dichtung) und den drei Furien (Rachegöttinnen) durch ihre Geschichten.
Zu Zeiten, in denen Frauen bereits im Teenageralter verheiratet wurden und ihr ganzes Leben lang keine Macht hatten, weder über ihre sexuelle Selbstbestimmung oder ihr eigenes Schicksal, wundert es umso mehr, warum die weiblichen Göttinnen im Olymp den Männern in nichts nachstanden. Drei der sechs Hauptgöttinnen lehnten sogar Ehe und Kinder ab – und genossen ihre Macht als jungfräulichen Göttinnen, die sich wild in den Wäldern auslebten, gemeinsam mit Männern in die Schlacht zogen oder sogar in gemischtgeschlechtlichen WGs wohnten. Die chillige Hestia pflegte platonische Männerfreundschaften (eine Seltenheit in der triebgesteuerten Mythologie)!
Von Musen zu Rachegöttinnen
In puncto Gewalttätigkeit konnten es die Göttinnen locker mit ihren männlichen Kollegen aufnehmen. Man denke nur an die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, die fast die ganze Menschheit ausgerottet hätte! Verärgert darüber, dass Totengott Hades ihre Tochter Persephone entführt hatte und in seinem unterirdischen Reich gefangen hielt, ließ sie sämtliche Ackerfrüchte und Pflanzen verdorren. Schließlich intervenierte der Olymp und zwang Hades, Persephone für einen Teil des Jahres freizugeben, sodass sie in die Oberwelt zurückkehren konnte. Dann haben wir Frühling und Sommer, während nach ihrem erneuten Umzug in die Unterwelt Herbst und Winter herrschen. Aphrodite trug wesentlich zum Ausbruch des größten Krieges der Antike, dem 10-jährigen Trojanischen Krieg bei. Wer Artemis beim Baden im Wald beobachtete, wurde zur Strafe von Jagdhunden zerfleischt.
Einerseits reagierten die Göttinnen auf die Gewalt von Männern. Denn Zeus und Co wollten nur zwei Dinge – Macht und vor allem Sex. Was Homer & Co beschönigend als „Verführung“ titulierten, war nichts anderes als eine Vergewaltigung. Entweder wurden die Objekte der Begierde getäuscht (indem sich Zeus beispielsweise in den jeweiligen Ehemann verwandelte oder als „goldener Regen“ durchs Dachfenster tröpfelte), bedroht oder schlicht mit göttlicher Stärke überwältigt. Doch auch die Herrscherinnen des Olymps waren oftmals von ihren Gefühlen getrieben. Wer die Eitelkeit einer Göttin beleidigte, fand sich mitunter in einem Spinnenkörper wieder.
Besonders schön ist die chronologische Klammer zwischen den schönen Musen – die von mächtigen Kreativkräften zu bloßen Objekten der Begierde degradiert wurden – zu den weniger schönen Furien. Nicht in jeder Darstellung galten die Rachegöttinnen mit Vogelkörpern und Schlangenhaaren als „hässlich“. Allein, dass sie Männern und Göttern widersprachen, machte sie bereits unattraktiv.
„Rockstar“ der Mythologie
Dass antike Sagen aus femininer Sicht momentan so einen Hype erfahren, ist vor allem dem „Rockstar der Mythologie“ Natalie Haynes zu verdanken, die mit ihren Werken „Die Heldinnen von Troja“ (Nominierung Women’s Prize Fiction) und „Stone Blind – der Blick der Medusa“ (Nominierung deutscher Jugendliteraturpreis) für Furore sorgte. Als BBC Rundfunkjournalistin mit eigenem wöchentlichen Mythologie-Podcast sowie als Komikern versteht sie es, sachliche Informationen mit modernen und äußerst amüsanten Zwischentönen zu versehen.
Ein herrliches Beispiel ist die Beschreibung des Fruchtbarkeitsgottes Priapos: „Egal, welches Bild aus der Antike man sich anschaut, man sieht, warum es ihm wahrscheinlich schwerfiel, sich auf etwas anderes als seine eigene Anatomie zu konzentrieren. Ein Fresko im Pompeji zeigt ihn schwer beschäftigt mit einer gigantischen Erektion, die er auf einer Waage wiegt.“ (S. 241).
Fazit: Sie sind noch nicht Mythologie-addicted? Beim Zeus, leben Sie hinterm Mond? In ebenso erhellenden wie gewagten Analogien zeigt die Autorin, wie viel Hera in den „Wonder Woman“-Comics steckt. Warum Katniss Everdeen aus die „Tribute von Panem“ eine aktuelle Version von Artemis ist. Wie Woody Allen die mächtige Aphrodite als Prostituierte ins moderne New York befördert.
Daher: Werfen Sie Aschenputtels Schühchen in den Altkleidersack, machen Sie mit Rapunzels Haarpracht einen Cut und schlüpfen Sie stattdessen in die Toga. Denn bei griechischen Göttinnen wird Female Empowerment großgeschrieben. Nicht immer nett, aber mal ehrlich: Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse … thronen schon längst auf dem Olymp!
Natalie Haynes: Goddesses – Die Macht der griechischen Göttinnen.
Aus dem Englischen übersetzt von Lena Kraus.
dtv, Oktober 2024.
352 Seiten, Taschenbuch, 18,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.