„… Die Stadt ist so ernst. Und so still. Und die Stille macht mich verrückt. Ob man daran sterben kann?“ (S. 11)
Nomi erkennt kurz vor ihrem Schulabschluss, dass ihre große Schwester Tash aus einem guten Grund aufgehört hat zu lachen, obwohl oder weil sie das normalste Mitglied der Familie Nickel ist. Sie verließ vor drei Jahren als erste die Familie, den einsamen Ort ihrer Kindheit und die strenggläubige Gemeinde der Mennoniten. Ein paar Monate später verschwindet ihre Mutter Trudi ohne Abschied aus ihrem Leben. Sogar ihr Pass bleibt in der Schublade liegen. Die für sie vorgesehene Zukunft macht Nomi ebenfalls angst. Soll sie wie alle anderen in der Hühnerfabrik von East Village arbeiten und sich an dem täglichen Töten der Tiere beteiligen? Das Einzige, was sie kurz vor ihrem Schritt in die Welt der Erwachsenen weiss, ist, dass ihr der Kompass fehlt.
Miriam Toews zählt zu den wichtigsten kanadischen Gegenwartsautorinnen. Nach einem Studium der Filmwissenschaften und Journalismus arbeitet sie für Presse und Rundfunk. Für ihre Romane Ein komplizierter Akt der Liebe, übersetzt von Christiane Buchner, Die fliegenden Trautmans und Das gläserne Klavier erhielt sie Preise.
Ihre Ich-Erzählerin, die sechzehnjährige Nomi, hat die Gabe, erfrischend und mit entwaffnender Logik ihr Umfeld herauszufordern. Die Suche nach ihrem Platz im Leben beginnt schwierig, weil ihr der Glaube alles verbietet, was Spaß macht. Spaß ist bei den Mennoniten nicht erlaubt. Die schlichte und von der Außenwelt isolierte Lebensführung kann ihren Hunger nach neuen Erfahrungen nur ersticken. Im Prinzip erfährt sie aufgrund ihrer Neugier und Offenheit stets nur eine sofortige Bestrafung. Dies gilt auch bei den kritischen Schulaufsätzen. Da hilft auch nicht der familiäre Hintergrund. Denn ihr Onkel ist die Stimme in ihrer Gemeinde und alles andere als ein gütiger Mensch. Sein Wort verlangt Unterordnung bis zur Selbstaufgabe. Nomis Geschichte ist eine Geschichte der Selbstfindung und des Ausbruchs aus festen Bandagen in einem kanadischen Ort nicht weit von der amerikanischen Grenze in den 1970-iger Jahren.
Miriam Toews schenkt dem Leser in einer unverwechselbaren Sprache eine erfrischende Geschichte, die sehr gut unterhält und tiefe Einblicke schenkt. Ein wunderbares Buch, das in Erinnerung bleibt.
Miriam Toews: Ein komplizierter Akt der Liebe.
Atlantik, Januar 2020.
304 Seiten, Taschenbuch, 12,90 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.